Text: Alexandra Wendorf
Die schwedische Psychotherapeutin, Autorin und Künstlerin Kikan Massara beschäftigt sich leidenschaftlich mit Bewusstseinsforschung, Meditation und emotionaler Gesundheit. In ihrer langjährigen therapeutischen Praxis in London, Stockholm und Paris setzt sie gezielt auf bildende Kunst, Symbole und Mythen, um den Zugang zu den heilenden Kräften der inneren Welt zu erleichtern.
In ihrem kürzlich im TASCHEN Verlag erschienenen Buch „Die 12 Schritte – Symbole, Mythen und Archetypen der Genesung“ verbindet Kikan Massara auf innovative Weise Kunst, Literatur und wissenschaftliche Erkenntnisse, um das bekannte Zwölf-Schritte-Programm aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Ursprünglich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Behandlung von Alkoholismus entwickelt, hat sich das Zwölf-Schritte-Programm als kraftvolles Werkzeug für die Heilung von verschiedensten Süchten und zwanghaften Verhaltensmustern etabliert.
Erstmals gelingt es Massara, die Zwölf Schritte in eine visuelle Erzählung zu übersetzen. In dem sehr ansprechend gestalteten Band hat sie über 150 beeindruckende Kunstwerke – von antiken Meisterwerken bis hin zu modernen Interpretationen – ausgewählt, um metaphorisch den spirituellen Weg der Heilung und Transformation zu illustrieren. „Die bildende Kunst bietet –unendlich viele Tore der Inspiration, Entdeckung, Kreativität und des Erwachens. Dass die Kunst die Kraft hat, das menschliche Bewusstsein zu erweitern, wird nicht bezweifelt.“ Massara nutzt diese Kraft der Bilder als logische Ergänzung zu den Prinzipien des Programms, das sie ausführlich beschreibt und das weltweit bereits Millionen von Menschen auf ihrem Weg der Genesung unterstützt hat.
Es gibt nicht viele Wahrheiten, sondern nur wenige. Ihr Sinn ist zu tief, als dass man sie anders erfassen könnte, als im Symbol.
C. G. Jung
Die Geschichte des 12-Schritte-Programms ist eng mit dem Aufstieg von Selbsthilfegruppen verbunden und bietet tiefe Einblicke in die menschliche Suche nach Heilung und Selbstfindung. Ursprünglich in den 1930er Jahren in den USA ins Leben gerufen, entstand es in einer Zeit, in der Sucht noch stark stigmatisiert war. Die Gründung des Programms geht auf Bill Wilson und Dr. Bob Smith zurück, die durch ihre eigenen Erfahrungen mit der Alkoholsucht zueinander fanden. Sie erkannten, dass gegenseitige Unterstützung und die Einbindung spiritueller Elemente in den Heilungsprozess eine starke Wirkung auf den Umgang mit Sucht haben können. Bill Wilson, selbst Börsenmakler, ließ sich von der christlichen Oxford Group inspirieren, die persönliche Transformation und Wiedergutmachung in den Mittelpunkt stellte. Zusammen legten sie die Grundsteine für das, was später als das 12-Schritte-Programm bekannt wurde und sich im Laufe der Jahrzehnte als ein Eckpfeiler der modernen Suchthilfe etabliert hat.
Bei diesem Programm handelt es sich um einen spirituellen Prozess, der jedoch offen genug gestaltet ist, um Menschen mit verschiedenen Glaubensrichtungen oder ohne religiöse Überzeugungen anzusprechen. Die Teilnehmer reflektieren über ihre Abhängigkeit, übernehmen Verantwortung für vergangenes Verhalten und setzen sich mit einer „höheren Macht“ auseinander – einer Macht, die jede*r frei definieren kann. Diese universelle Offenheit ermöglicht es, dass das Programm von Menschen auf der ganzen Welt angenommen wurde. Seine Struktur, die vom Eingeständnis der Machtlosigkeit über die Bitte um Hilfe bis hin zur Wiedergutmachung an andere reicht, bietet einen klaren, aber flexiblen Leitfaden zur persönlichen Heilung.
Mit der Veröffentlichung des „Big Book“ im Jahr 1939 begann das 12-Schritte-Programm eine globale Bewegung zu werden und sich inhaltlich stark zu erweitern: Von den Anonymen Alkoholikern (AA) ausgehend, fanden bald auch Menschen mit anderen Abhängigkeiten – seien es Drogen, Kaufsucht, Essstörungen oder Glücksspiel – im Programm Unterstützung. Heute ist es in unzähligen Selbsthilfegruppen und Kliniken fest verankert und hat Millionen Menschen auf ihrem Weg der Genesung begleitet.

Eine moderne Perspektive: Kunst und Symbole in der Suchttherapie
Ein besonders faszinierender Aspekt der Weiterentwicklung des Programms ist der kreative Einsatz von Kunst und Symbolik, wie ihn Kikan Massara verfolgt. Sie integriert visuelle Symbole und Kunstwerke in ihre psychologische Arbeit, um Menschen zu helfen, emotionale Blockaden auf unbewusster Ebene zu lösen. Diese nicht-verbale Ausdrucksform ermöglicht es, tiefer in die Gefühlswelt einzutauchen und emotionale Konflikte auf künstlerische Weise zu verarbeiten. Es ist ein Ansatz, der die spirituellen Prinzipien des Programms um eine weitere Dimension bereichert und neue Wege der Selbstreflexion eröffnet.
In einer Zeit, in der Sucht und psychische Instabilität in allen Gesellschaftsschichten und Lebensbereichen um sich zu greifen scheinen, ist das 12-Schritte-Programm immer noch ein essenzielles Werkzeug in der Selbsthilfe. Seine Flexibilität und die Möglichkeit, es auf unterschiedliche Arten von Abhängigkeiten und Verhaltensmustern anzuwenden, machen es besonders wirkungsvoll. Dabei spielt die Gemeinschaft eine zentrale Rolle: Die Verbindung zu anderen, die ähnliche Erfahrungen teilen, unterstützt den Einzelnen und schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Wenn emotionale Energie, die man nicht beachtet, überwältigend wird, ist es verführerisch, sie durch eine Reihe von Abhängigkeiten selbst zu behandeln. Nicht nur legale oder illegale Substanzen, sondern auch Arbeit, Macht, Status, Vergnügen, Sex, Beziehungen – alles kann als Suchtmittel dienen.
Miriam Greenspan
Das Programm spricht nicht nur die Symptome der Sucht an, sondern geht auch auf tiefere psychische Ursachen ein. Es bietet den Menschen eine umfassende Möglichkeit, ihr Leben in einem ganzheitlichen Prozess der Heilung und des Wachstums neu auszurichten.
Das 12-Schritte-Programm hat sich von seinen Anfängen in Akron, Ohio, zu einer globalen Bewegung entwickelt, die Millionen von Menschen inspiriert und unterstützt. Es verbindet spirituelle Weisheit mit praktischen Handlungsschritten und bietet durch seine Offenheit Raum für persönliche und kollektive Heilung. Die Ergänzung durch künstlerische und symbolische Elemente erweitert das Programm um neue, kreative Wege der Genesung und macht es weiterhin zu einem einzigartigen Ansatz in der modernen Suchthilfe.
Für Kulturinteressierte bietet das 12-Schritte-Programm nicht nur eine Geschichte der Heilung, sondern auch Einblicke in die menschliche Psyche, spirituelle Praktiken und kreative Ausdrucksformen, die tiefe emotionale Prozesse fördern können. Ob in der Selbsthilfe von Menschen mit Suchtproblemen, in therapeutischen Kontexten oder sogar in der persönlichen Entwicklung – die universellen Prinzipien des Programms sprechen viele Menschen an. Massara erweitert diese Idee in ihrem Buch, indem sie Symbole, Mythen und Archetypen als Brücken zwischen dem Bewussten und Unbewussten einbezieht. Sie argumentiert, dass diese künstlerische und symbolische Dimension hilft, den inneren Heilungsprozess zu vertiefen.
In ihrer Analyse zeigt Massara, dass Symbole und Kunst eine mächtige Rolle in der psychischen und emotionalen Heilung spielen können, weil sie als Ausdrucksformen dienen, die über das rein Rationale hinausgehen. Symbole und Kunstwerke sprechen die archetypischen Bilder in unserem Unbewussten an, die tief verwurzelte Emotionen, Konflikte und Traumata an die Oberfläche bringen können. Diese nonverbale Ausdrucksebene ergänzt das eher rationale und strukturierte Vorgehen des traditionellen 12-Schritte-Programms auf einer tieferen emotionalen Ebene: Kunst und Symbole funktionieren deshalb, weil sie das Unaussprechliche ausdrücken und Heilung auf einer Ebene fördern, die oft durch Worte allein nicht erreicht werden kann. Sie bieten einen Zugang zu den inneren Mythen und Erzählungen, die unser Verhalten prägen, und eröffnen somit neue Wege zur Selbstreflexion und Transformation.
Kikan Massaras Buch erweitert den klassischen Rahmen des 12-Schritte-Programms und ermöglicht eine tiefere Auseinandersetzung mit den persönlichen und kollektiven Dimensionen von Sucht und Genesung. Das Buch ist eine wertvolle Ressource für Therapeuten, Betroffene und alle, die sich auf eine Reise der Heilung und persönlichen Entwicklung begeben möchten. In einer Gesellschaft, die immer komplexer und fragmentierter wird und in der die Anforderungen an den Einzelnen ständig steigen, könnte der Weg, den Massara beschreibt, noch mehr an Bedeutung gewinnen. In ihrer gelungenen Verbindung mit den bildenden Künsten bieten „Die 12 Schritte“ Anknüpfungspunkte und Orientierungshilfen in einer Welt, in der es oft an Orientierung und Stabilität und damit an persönlicher Sicherheit mangelt.
Über die Autorin:
Kikan Massara ist Psychotherapeutin, Autorin und Kreative. Als leidenschaftliche Forscherin in den Bereichen Bewusstseinsstudien, Meditation und emotionale Gesundheit verwendet sie in ihrer Praxis seit langem visuelle Kunst, Symbole und Mythen, um den Zugang zu den ermächtigenden Ressourcen der inneren Welt zu erleichtern.
Über die Herausgeberin:
Jessica Hundley ist Autorin, Filmemacherin und Journalistin. Sie hat für Medien wie die Vogue, Rolling Stone und die New York Times geschrieben und Bücher über Künstler wie Dennis Hopper, David Lynch und Gram Parsons veröffentlicht. Hundley erforscht Themen der Counterculture mit einem Fokus auf die metaphysischen, psychodelischen und magischen Aspekte.
Die 12 Schritte. Symbole, Mythen und Archetypen der Genesung
Kikan Massara, Autorin
Neuerscheinung im Taschen Verlag 2024, Hardcover, Halbleinen, 17 x 24 cm, 384 Seiten, ISBN 978-3-8365-7698-7, Preis 30 Euro
Titelbild: Edvard Munch, The Day After, 1884 Nasjonalmuseet Norway