Text: Xiao Xiao
Zu dem 2023 erschienenen Buch „Regen“ trat der Buchautor Ferdinand von Schirach auf der Bühne in der Tonhalle in Düsseldorf am einen frühen Frühlingsabend auf. In seiner Erzählung, die monologisch vorging, artikulierte Schirach seine Nachgedanken von seiner persönlichen Gefangenschaft in der tiefen Trauer, die er in einer Form der Zivilisationskritik konkretisierte.
„Der erste Satz ist schwer“, sagte Ferdinand von Schirach auf der Bühne immer wieder. Wie fängt man vor Leeren Blättern an, all das zu schreiben, was der 60-Jährige (sein Alter hat er freiwillig selbst preisgegeben) in seinem Leben erlebt hat? Das ist ein Problem des Schreibens, aber nicht nur der Literatur. Es ist ein Problem für jeden, der grenzüberschreitend denkt.
Grenzen überschreiten, wohin? Wenn man eine Grenze verlässt, die fest definiert ist? Und kehrt man dorthin zurück, wo sie ihren Ausgang nahm? Ich konnte gut nachvollziehen, dass der erste Satz schwierig ist.
Das Überschreiten einer Grenze geschah nach dem Schriftsteller auf der Bühne zufällig, aber notwendig. Es war so zufällig, dass der Auftritt auf der Bühne einmalig war; aber es war auch notwendig, dass es keine weiteren Termine für dieses literarische Theatererlebnis in Düsseldorf gab. Es musste einmalig sein.
Es musste deshalb einmalig sein, denn der Autor sprach über die Wahl, die einen Tag zuvor stattgefunden hatte. Erst in der Nacht des Wahlsonntags gesammelt, teilte er seine Gedanken mit seinem Publikum am zweiten Tag auf der Bühne – ein Teil des Stoffes seines Monologs war keine 24 Stunden alt. Die Verbundenheit mit der Zeit, in der der Autor über die jüngste Gegenwart nachdachte, käme zu einem anderen Zeitpunkt nicht in dieser Intensität zum Ausdruck.
Die ersten Sätze von Schirachs sprach er in seinem Theatermonolog über die Wahl. Dieser Prolog war für das laut vorgetragene Zwiegespräch des Autors wichtig, weil er damit die Ambivalenz als Grundbedingung demokratischer Politik hervorhob. Seinem Beispiel des Altkanzlers Willy Brandt, dem Führungsschwäche vorgeworfen wurde, stellte der Autor mit seiner Artikulierung auf die Ambivalenz die Politiker/innen gegenüber, die durchzugreifen zu wissen schienen. Es geschah keine politische Aktion auf der Bühne; obwohl der Applaus aus dem Publikum dem Sprechenden eine Resonanz von Einverständnis und Begeisterung gab, blieb es ein persönlicher Gedanke – er wollte niemandem in dem Saal der Düsseldorfer Tonhalle zwingen, seinen Gedanken zu folgen; er teilte uns nur seine Ansicht mit.
Zum demokratischen Prozess sprach der Schriftsteller über das literarische Schreiben, dass diese Art des Schreibens kein demokratischer Prozess vergleichbar war. In der Literatur gibt es Leerstellen, die der Leser ausfüllen muss. Der Text gehört im Moment der Rezeption allein dem Leser. Es ist seine Welt, in die der literarische Text führt. Im Vergleich zum Film, der eine Erzählung in konkreten Bildern veranschaulicht, ist die Interpretationskraft des Rezipienten geschwächt. Der erfahrungsreiche Autor hat einen gelungenen Vergleich gezogen, den ich als Zuschauer nachvollziehen konnte.
Ich habe ihm mehr zugehört als zugesehen. Zu sehen gab es auf der Bühne nur einen allein sprechenden Mann, einen roten Holzstuhl und einen kleinen Tisch – ein Ausschnitt aus einem Cáfe, in dem ab 23 Uhr geraucht werden durfte. Wahrscheinlich eine Szene aus einer Großstadt, in der die kulturellen Gepflogenheiten noch zugunsten des künstlerischen Schaffens geachtet wurden. Ein melancholisches Gefühl der Einsamkeit, wenn man am Ende des Tages zu sich selbst zurückkehrte, und man selbst sein konnte und durfte. Dieses Ich-Sein war keine egoistische Beliebigkeit, der Mensch verband sich mit sich selbst, in der Spannung der Ambivalenz.
Ambivalent war die Einsicht, die den Schriftsteller nachhaltig begleitete. Bekanntlich war er ursprünglich Staatsanwalt. In einem Fall vor 17 Jahren wurde er von der Richterin der Befangenheit bezichtigt, was den Ausgangspunkt seiner Frage bildete: Wie können wir jemals unvoreingenommen und unbeeinflusst denken und handeln? Der Staatsanwalt, so die Richterin, habe den Angeklagten in die Irre geführt, indem er ihn gefragt habe, welche Strafe er sich selbst zuspräche. Der Angeklagte hatte seine Frau mit einem Messer am Hals getötet, nachdem er von ihrer Affäre erfahren und im Streit sie ihn persönlich beleidigt hatte. Man könne sich nicht selbst vergeben, so der Staatsanwalt, es sei denn mit Hilfe der Kraft der Religion. „Er hatte meine Frage gut verstanden“, sagte der Schriftsteller heute. Aber die Richterin schien es nicht zu tun.
Diese persönliche Erfahrung aus dem beruflichen Kontext des Strafrechts öffnete das Nachdenken über die Würde des Menschen in eine philosophische Dimension, die im zeitlichen Kontext der Gegenwart zu führen ist. Er verließ die rechtlichen Grenzen der Menschenwürde in Richtung Philosophie und fragte, ob diese Frage nur unter der Dominanz der Verwissenschaftlichung und Technisierung zu diskutieren sei. Wie ist die Menschenwürde zu verstehen, wenn die Wissenschaften über die biologische Funktionalität des menschlichen Körpers so weit gegangen sind, dass sie mit technischer Hilfe menschliches Verhalten verändern und gar steuern können? Wie ist die Menschenwürde zu achten, wenn in der kapitalistischen Gesellschaft der Konsum im Vordergrund steht?
Seine Kritik, dass das moderne Leben aus der Beobachtung stillos schien, weil es auf das Praktische, das Funktionäre und das Effiziente schwerlag, ließ Schirach von einem Beispiel ausgehen. Seine persönliche Erfahrung von der antiken Architektur in Griechenland führte zu seiner Einsicht, dass das Große in der Einfachheit läge. Heute ließen sich solche Bauwerke nicht mehr errichten. Die Ambivalenz zerschlug das Großartige, das man sinnlich wahrnehmen kann.
Ein kontemplativer Lebensstil, in dem man die Kunst des Verweilens neu erlernen kann, indem man sich die Zeit nimmt, die Momente zu erkunden, wird in Ostasien seit Jahrtausenden praktiziert. In dieser Praxis erfährt man tatsächlich das Große in der Einfachheit; aber das Große entzieht sich der physischen Dimension einer sichtbaren Größe wie einem griechischen Tempel; vielmehr bleibt das Große im Unsichtbaren, aber Wahrnehmbaren. Der Begriff der Einfachheit erschließt die Offenheit der sinnlichen Wahrnehmung als das Große, das dem existentiellen Menschsein zugrunde liegt. Die Ästhetik des Einfachen, die in Kunst und Design in Ostasien artikuliert und thematisiert wird, findet ihren Ausdruck im Detail. Im Gegensatz zum Großen in der antiken Architektur transzendiert sich das Große in der ostasiatischen Ästhetik im Kleinen, in Feinheiten, im scheinbar Unwichtigen. Diese kontemplative Praxis zelebriert die Leere als das Große, das Raum gibt für die Dinge, die in unserem Bewusstsein präsent sind.
In dieser Erkenntnis schreibe ich meine Hoffnung zu der scheinbar hoffnungslosen Kritik im „Regen“ und meinen Zuspruch zu dem Mut des Schriftstellers, dass er seine Trauer über die Gegenwart von Angesicht zu Angesicht betrachten kann.
Vor dem Café, in dem er ab 23 Uhr eine Zigarette rauchen durfte, ließ der Regen nach. Sein Monolog endete mit einer letzten Geschichte über ein Mädchen, das er in einem Süßwarenladen getroffen hatte. Sie hatte keinen Pfennig für ihren langen Wunschzettel, nachdem der Ladenbesitzer sie gefragt hatte, was sie in seinem Süßigkeitsladen kaufen wolle.
Ferdinand von Schirach, Regen. Eine Liebeserklärung
Erschienen im Luchterhand Verlag, 112 Seiten, ISBN 978-3-630-87738-9, 20,00 Euro