Kunst des Schwingens. Akustisch und materiell

Text: Alexandra Wendorf

Betritt man die Halle der Sammlung Philara, so gelangt man in mehr als nur einen Kunstraum. Es ist ein vibrierendes Labor für die Sinne, ein Ort, an dem Klang, Licht und Material miteinander verschmelzen. In diesem Winter begegnen sich dort gleich zwei Welten, die kaum gegensätzlicher und zugleich verwandter sein könnten: Klangkunst und Glaskunst.

Im Ohr: MODULAR ORGAN von Phillip Sollmann und Konrad Sprenger

Hier verwandelt sich die ehemalige Glaserei in einen begehbaren Resonanzraum, in dem mechanische Klangkunst und musikalische Extreme zum Experiment werden. Orgelpfeifen, Windmaschinen und computergenerierte Rhythmen durchströmen die Halle mit vibrierenden Frequenzen, die nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren sind.

Was Sollmann und Sprenger hier schaffen, ist eine Meditation über das Verhältnis von Technik und Empfindung. Die Halle selbst – einst Ort der Glasproduktion – wird zum Instrument, das an seine industrielle Vergangenheit erinnert und zugleich in die Zukunft weist: ein physischer, beinah körperlicher Dialog zwischen Raum, Klang und Erinnerung.

Im Auge und in der Hand: MELTING SANDS – Glas in der zeitgenössischen Kunst

Anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der ehemaligen Glaserei Lennarz, dem historischen Standort der Sammlung Philara, widmet sich die Ausstellung dem Material, das diesen Ort geprägt hat: Glas. Doch statt nostalgisch zurückzuschauen, stellt Melting Sands Fragen nach Gegenwart und Zukunft eines Stoffes, der alles andere als starr ist.

Mit 15 internationalen Künstler:innen – darunter Jeanine Verloop, Mischa Kuball, Katharina Maderthaner, Leonor Serrano Rivas und Narges Mohammadi – entfaltet sich ein Panorama der „beständigen Zerbrechlichkeit“. Glas wird hier nicht mehr als reines Handwerksmaterial begriffen, sondern als Denkfigur: als chaotischer Feststoff, als unterkühlte Flüssigkeit, als Metapher für Wandel, Transparenz und Brüchigkeit zugleich.

Die Kuratorinnen Julika Bosch und Hannah Niemeier haben eine Ausstellung geschaffen, die den Aggregatzustand zwischen Stabilität und Auflösung selbst inszeniert. Glas ist hier nicht dekorativ, sondern subversiv – ein Spiegel unserer Zeit, in der die Grenzen zwischen Körper und Oberfläche, Realität und Simulation sowie Technik und Natur zunehmend fließend werden.

Glas – ein Material zwischen Körper, Geist und Klima.

Kaum ein anderes Material vereint so viele Widersprüche wie Glas. Es ist durchsichtig und dennoch trennend, hart und zugleich zerbrechlich, alt und ultramodern. Seine Herstellung erfordert extreme Hitze, um Sand zu einem klaren, glatten Körper zu schmelzen. Genau darin liegt die poetische Kraft dieses Stoffes: Glas entsteht aus Zerstörung, aus Transformation.

Für viele Künstler:innen unserer Gegenwart ist das mehr als ein formaler Reiz. In einer Welt, in der ökologische, gesellschaftliche und digitale Systeme gleichermaßen ins Schmelzen geraten, steht Glas für die Ambivalenz von Transparenz und Verletzlichkeit, von Kontrolle und Zufall.

Melting Sands, Installationsansicht Jeanine Verloop, Sammlung Philara, Foto: © Kai Werner Schmidt
Narges Mohammadi, In the shadow of the sun, 2023

Dass Glas derzeit ein Comeback in der zeitgenössischen Kunst erlebt, ist daher kein Zufall. Nach Jahrzehnten der dominierenden Konzeptkunst und Digitalästhetik wächst das Bedürfnis nach materieller Erfahrung und handwerklicher Intelligenz. Glas ermöglicht beides: eine Rückkehr zum Körperlichen und eine Reflexion über das Technologische. Es fängt Licht ein, lenkt Blickrichtungen und erzeugt Spiegelungen. Es zeigt, wie sehr Wahrnehmung immer auch Konstruktion ist.

So wird Melting Sands zu einer Ausstellung über das Material als Idee: über die Zerbrechlichkeit von Wissen, über das Durchscheinen und Brechen von Identität sowie über die Sehnsucht nach Klarheit in einer trüben Welt.

Begegnungen mit dem Fragilen

Wer durch die Räume geht, entdeckt spiralförmige Glasobjekte, die in den leisen Schwingungen „Chime” von Jeanine Verloop fast zu zerspringen drohen. Katharina Maderthaner spielt mit Ironie und Nostalgie, indem sie Alltagsobjekte wie Tiffany-Lampen, Socken und Käsebrote aus Glas fertigt und ihnen eine beinah überirdische Fragilität verleiht.

Narges Mohammadi widmet ihre melancholisch leuchtenden Skulpturen aus Zuckerglas der Trauerarbeit – gläserne Häute, die sich über den Schmerz legen. Leonor Serrano Rivas formt mit ihren „Carcasa“-Skulpturen wiederum eine eigene poetische Architektur aus Zerbrechlichkeit und Schutz. Zwischen all dem blitzen die Nachtbilder und Neonarbeiten von Mischa Kuball auf – als Erinnerung daran, dass Licht selbst aus Glas geboren wird.

Gesellschaftliche Resonanzen

Die Ausstellung „Melting Sands“ wirft unter anderem die Frage auf: Wie erinnern wir, wenn unsere Materialien selbst instabil sind? Glas erlaubt es, über Identität als Schichtung nachzudenken – transparent, aber nie eindeutig. Es reflektiert die Erfahrung des modernen Menschen, der zugleich sichtbar und verletzlich ist, global vernetzt und doch individuell gebrochen. Kunst aus Glas zeigt die Gesellschaft als Prozess: Nichts ist endgültig, alles ist im Wandel. Zwischen Härte und Schmelze liegt jener Zwischenraum, in dem auch wir uns bewegen – fragil, aber leuchtend.

Die Sammlung Philara würdigt mit den Ausstellungen MODULAR ORGAN und MELTING SANDS die Kunst des Klangs und der Zerbrechlichkeit – zwei Zustände, die mehr verbindet, als man denkt. Beides sind Formen des Schwingens: das eine akustisch, das andere materiell. Wer den Wandel von Material und Bedeutung im wahrsten Sinne des Wortes hör- und sichtbar erleben möchte, hat in Düsseldorf die Gelegenheit dazu. Hier wird Glas zur Sprache, Klang zur Form und Kunst zum Resonanzraum unserer Zeit.


MODULAR ORGAN & MELTING SANDS – Glass in Contemporary Art

Sammlung Philara, Birkenstraße 47a, Düsseldorf, noch bis zum 25. Januar 2026, Eintritt: „Pay what you wish“. Weitere Informationen: www.philara.de

Titelbild: Mathilde Rosier, Field of Vision (Detail), 2025

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