Einfachheit als Vision – Die Shaker im Vitra Design Museum

Text: Alexandra Wendorf

Eine andere Welt ist möglich. – mit diesem Leitsatz empfängt das Vitra Design Museum seine Besucher:innen zur Ausstellung „Die Shaker. Weltenbauer und Gestalter“, die noch bis zum 28. September 2025 zu sehen ist. In Kooperation mit internationalen Partnerinstitutionen – darunter dem Shaker Museum in Chatham, New York – widmet sich die Ausstellung einer bemerkenswerten, visionären Bewegung: den Shakern. Diese religiöse Gemeinschaft war geprägt von den Ideen der Gleichheit, Arbeit und spirituellen Reinheit, die sich tief in der Gestaltung des Alltäglichen widerspiegelten. 

Die Wurzeln einer radikalen Gemeinschaft

Die Geschichte der Shaker beginnt im England des 18. Jahrhunderts. Die Bewegung wurde von Ann Lee, einer Weberin aus Manchester, gegründet. 1774 wanderte sie mit acht Mitstreitern in die amerikanischen Kolonien aus. Die aus einer quäkerischen Reformströmung hervorgegangene Gemeinschaft entwickelte eine spirituelle Lebensweise, die sich radikal vom Mainstream unterschied: Zölibat, Gleichberechtigung der Geschlechter, gemeinschaftliches Eigentum und die Auffassung von Arbeit als Glaubenshandeln. Der Name „Shaker” leitet sich von ihren ekstatischen, rhythmischen Andachtstänzen ab, mit denen sie Reinheit und Gottesnähe suchten.

Im 19. Jahrhundert erlebte die Bewegung ihre Blütezeit: Rund 20 autarke Siedlungen mit bis zu 6.000 Mitgliedern entstanden vor allem in Neuengland und im Mittleren Westen der USA. Diese Gemeinden waren streng organisiert, lebten weitgehend selbstversorgend, standen jedoch technischen und wirtschaftlichen Innovationen offen gegenüber. Ihre Gleichstellungspraxis, die Aufnahme von Waisen und Ausgestoßenen, ihr Pazifismus und ihre ressourcenschonende Lebensführung waren ebenso außergewöhnlich wie visionär.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel und den Konsequenzen des Zölibats setzte nach dem Bürgerkrieg ein Mitgliederrückgang ein. Viele Gemeinschaften lösten sich auf, andere wurden zu musealen Stätten. Heute existiert mit Sabbathday Lake Shaker Village in Maine nur noch eine aktive Gemeinschaft mit wenigen Mitgliedern. Historische Siedlungen wie Hancock oder Canterbury erzählen als Museen von der utopischen Kraft und der gestalterischen Brillanz der Shaker.

Landwirtschaftliche Werkzeuge, Foto: © Vitra Design Museum / Alex Lesage, mit freundlicher Genehmigung des Shaker Museum, Chatham, New York
Umhänge aus Wolle, Foto: © Vitra Design Museum / Alex, Lesage, mit freundlicher Genehmigung des Shaker Museum, Chatham, New York

Im Geiste der Reduktion

Die auf radikale Schlichtheit ausgerichtete Gestaltung der Shaker beeinflusst seit über zwei Jahrhunderten Künstlern und Künstlerinnen, Architekten und Designern weltweit. Wer je auf einem perfekt ausbalancierten Shaker-Stuhl saß oder eine ovale Spanschachtel in den Händen hielt, spürt: Hier ist Form kein Selbstzweck, sondern Ausdruck einer Haltung. Die Shaker waren der Meinung, dass Schönheit aus Zweckmäßigkeit, Ehrlichkeit und Disziplin erwächst. Ornament galt als Ablenkung vom Wesentlichen – ein Gedanke, der ihre Möbel, Bauten und Werkzeuge zu bis heute gültigen Archetypen funktionalen Designs machte.

Die Charakteristik dieser Gestaltung – klare Linien, Modularität und nachhaltige Materialien – findet sich im skandinavischen Mid-Century-Design ebenso wie in den Arbeiten zeitgenössischer Designern wie Jasper Morrison, Ilse Crawford oder den Bouroullec-Brüdern. So radikal das Shaker-Design in seiner eigenen Zeit war, so sehr finden sich seine Grundwerte in anderen Strömungen wider ohne dass sie in direktem historischen Kontext stehen: So proklamierte der österreichische Architekt Adolf Loos in seinem 1910 erschienenen Essay „Ornament und Verbrechen“, übermäßige Verzierung sei kultureller Rückschritt. Auch wenn Loos die Shaker wohl nicht persönlich kannte, ist die geistige Nähe unverkennbar: Beide lehnten Überflüssiges ab und sahen in der reinen Form eine moralische Verpflichtung.

Deutlicher wird die ideelle Verbindung zur britischen Arts-and-Crafts-Bewegung um William Morris, die sich gegen die Entfremdung durch die Industrialisierung wandte und sich für handwerkliche Qualität und ehrliche Materialien einsetzte. Der amerikanische Möbelgestalter Gustav Stickley orientierte sich beispielsweise explizit am schlichten, robusten Mobiliar der Shaker. Hier wurde die Verschmelzung von funktionaler Klarheit und ethischem Anspruch zum Programm. Ganz ähnlich zielte der 1907 gegründete Deutsche Werkbund darauf, Qualität und Funktionalität mit industrieller Fertigung zu verbinden. Ein direkter Einfluss der Shaker lässt sich historisch nicht belegen, doch ideell teilten beide die Überzeugung, dass Gestaltung eine kulturelle Verantwortung trägt und die „gute Form“ zweckorientiert entstehen muss.

Vier Räume – vier Welten

Die Ausstellung im Vitra Design Museum ist in vier Abschnitte gegliedert, die jeweils einen anderen Aspekt der Shaker-Kultur beleuchten.

„The Place Just Right“ bietet eine Einführung in die spirituellen und architektonischen Prinzipien. Hier lassen sich Möbel und Bauformen als Ausdruck gemeinschaftlicher Ordnung lesen. Begleitet wird dieser Abschnitt von Reggie Wilsons Videoinstallation „POWER“, die den Shaker-Tanz mit afroamerikanischen Bewegungstraditionen verknüpft.

• „When We Find a Good Thing, We Stick to It“: Möbelklassiker wie Stuhl, Kommode oder Wandhakenleiste treten in den Dialog mit zeitgenössischen Positionen, etwa Kameelah Janan Rasheeds Auseinandersetzung mit Rebecca Cox Jackson, einer schwarzen Shaker-Ältesten.

• „Every Force Evolves a Form“ zeigt die Shaker als Unternehmer:innen und Innovator:innen, deren „Fancy Goods“ und Werkzeuge nicht nur formschön, sondern auch wirtschaftlich erfolgreich waren. Hier knüpft Christien Meindertsma mit einem biologisch abbaubaren Sarg an die Korbflechtertradition der Shaker an.

• „I don’t want to be remembered as a chair“ betont das spirituelle Vermächtnis der Shaker, etwa in den feinen Gift Drawings oder in Amie Cunats Installation „Meetinghouse 2“, die zum Nachdenken über Gemeinschaft einlädt.

Was diese Ausstellung so aktuell macht, ist nicht nur das formschöne Design, sondern auch dessen Kontext: Die Shaker entwarfen ihre Welt als konkrete Utopie – gemeinschaftlich geteilt, gendergerecht organisiert, spirituell motiviert und demokratisch gelebt. Manche Regeln wirken aus heutiger Sicht streng, doch ihr Ziel war eindeutig: eine Welt ohne Überfluss, aber mit Sinn. Gerade in Zeiten von Ressourcenknappheit, sozialer Fragmentierung und Überproduktion wirkt das Shaker-Prinzip wie eine kulturelle Erinnerung: Ein schlichter Stuhl kann Manifest und Moral zugleich sein. Ob im handwerklich makellosen Möbel, im klar gegliederten Raum oder im Rhythmus eines Tanzrituals – „Die Shaker. Weltenbauer und Gestalter” öffnet ein Fenster in die Vergangenheit und in eine mögliche Zukunft der Gestaltung: ehrlicher, nachhaltiger und gemeinschaftsorientierter. Die Shaker wussten: Eine andere Welt beginnt nicht mit großen Utopien, sondern manchmal einfach mit einem gut gemachten Stuhl.


Die Shaker. Weltenbauer und Gestalter


07. Juni 2025 – 28. September 2025
Vitra Design Museum, Weil am Rhein, design-museum.de
Kuratorinnen: Mea Hoffmann, Shoshana Resnikoff u. a.
Begleitprogramm: Workshops, Panels, Familienführungen, weitere Infos hier

Titelbild: Ovale Spanschachtel auf einer Schreinerwerkbank, New Lebanon, New York, 2024, Foto: © Vitra Design Museum / Alex Lesage, mit freundlicher Genehmigung des Shaker Museum, Chatham, New York

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