Text: Alexandra Wendorf
Mit Hokusai – Maximus legt der Taschen Verlag eine monumentale Monografie vor, die Leben und Werk des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai (1760-1849) in besonderer Tiefe beleuchtet. Die Publikation besticht nicht nur durch das in grüne Rohseide gebundene XXL-Format und das ungeheure Gewicht von knapp sieben Kilo, sondern auch durch die wissenschaftlich fundierten Texte, die die Vielseitigkeit und den Einfluss dieses Künstlers eindrucksvoll darstellen.
Hokusai (ausgesprochen Hok’sai, das „u“ ist stimmlos), bekannt vor allem durch sein ikonisches Werk „Die große Welle vor Kanagawa“ – kurz „Die große Welle“ genannt – ist das weltweit bekannteste und am häufigsten reproduzierte Werk japanischer Kunst. Ob als Poster, auf Taschen, Tassen oder T-Shirts – das ikonische Motiv des japanischen Farbholzschnitts ist über die Jahre in den globalen Kulturkanon eingegangen. Doch wer weiß schon, dass es von Katsushika Hokusai stammt, einem der größten Künstler der Edo-Zeit? Und wer weiß, dass dieses Bild nur ein kleiner Teil eines unglaublich vielfältigen und facettenreichen künstlerischen Schaffens ist?
Hokusais künstlerisches Werk erstreckt sich über sieben Jahrzehnte und umfasst eine beeindruckende Bandbreite an Themen und Stilen. Das neue Buch Hokusai – Maximus des Taschen Verlags bietet nun eine umfassende Zusammenstellung, die weit über die bekannte „Große Welle“ hinausgeht und einen tiefen Einblick in die gesamte Schaffenswelt dieses Ausnahmekünstlers gewährt. Besonders bemerkenswert ist der chronologische Aufbau des Buches, der die Schaffensphasen Hokusais mit den zahlreichen Künstlernamen verbindet, die er im Laufe seines Lebens auf der Suche nach Innovation und Perfektion annahm.
So hat sich Hokusais Stil im Laufe seiner rund 70-jährigen Schaffenszeit kontinuierlich weiterentwickelt und spiegelt sein unermüdliches Streben nach künstlerischer Vollkommenheit und die stetige Weiterentwicklung seines künstlerischen Ausdrucks wider. Hokusais Karriere begann sehr früh. Mit nur 12 Jahren fing er an zu zeichnen und entwickelte sich schnell zu einem begnadeten Holzschnittkünstler. Mit knapp 20 Jahren revolutionierte er die Landschaftsmalerei, indem er zum ersten Mal die Zentralperspektive verwendete, die er von der westlichen Renaissance übernommen hatte. Im Laufe seiner Karriere entwickelte er seinen eigenen Stil weiter, widmete sich der erotischen Kunst (Shunga), experimentierte mit neuen Drucktechniken und ließ humorvolle und manchmal skurrile Einflüsse in sein Werk einfließen. Noch in seinen letzten Lebensjahren, als er fast 90 Jahre alt war, waren seine Arbeiten von erstaunlicher Kreativität und Innovation geprägt. Besonders in seinen aus der Vogelperspektive gemalten Landschaften zeigt sich seine stete Neugier auf neue Perspektiven und Kompositionen.
Zu Beginn seiner Karriere, in den 1770er und 1780er Jahren, konzentrierte er sich noch auf Porträts von Kabuki-Schauspielern und Kurtisanen, die sich durch detaillierte Gesichtszüge und klare Linien auszeichneten. Diese Phase war stark von seinem Mentor Shunshō beeinflusst, doch nach dessen Tod 1793 begann Hokusai, sich von den traditionellen Sujets zu lösen und sich neuen Themen zuzuwenden, insbesondere der Natur und dem Alltagsleben der einfachen Leute.
In seinen mittleren Jahren experimentierte Hokusai mit europäischen Techniken und erweiterte die Farbpalette seiner Farbholzschnitte. Diese Elemente gipfelten in der berühmten Serie 36 Ansichten des Berges Fuji (1829-1833), die Landschaften in innovativen Kompositionen darstellt. Die Große Welle vor Kanagawa, die ebenfalls in dieser Serie entstand, zeigt diese Verschmelzung japanischer und westlicher Stilelemente und demonstriert seine Meisterschaft in der Darstellung von räumlicher Tiefe und Dynamik.
Später wandte sich Hokusai zunehmend großformatigen Bildern sowie mythologischen und religiösen Themen zu. Gleichzeitig bewahrte er sich seine humorvolle und experimentelle Herangehensweise, die sich in seinen Skizzenbüchern (Hokusai Manga) mit Momentaufnahmen des gesellschaftlichen Lebens widerspiegelt. Auffallend bleibt die Wandlungsfähigkeit seines Stils und die Vielfalt seiner Bildwelten, die ein breites Spektrum von Themen umfassen: schöne Frauen, dickbäuchige Männer, imposante Sumo-Ringer, grausige Dämonen und skurrile Kabuki-Mimen. Aber ebenso faszinierend sind die akribische Linienführung, die exquisite Farbgebung und die spannende Komposition seiner Werke. Vom dramatischen Wasserfall bis zur zarten Blume, die in der Vergänglichkeit des Lebens wiegt, spiegeln sich alltägliche Szenen aus Gesellschaft, Theater, Natur und Mythologie. Diese Bilder sind nicht nur ein Spiegel der Edo-Zeit, sondern auch Ausdruck der tiefen philosophischen und spirituellen Weisheit des Zen-Buddhismus, die der Künstler in seine Werke einfließen ließ.
Neben der künstlerischen Vielfalt Hokusais ist die Technik des japanischen Holzschnitts selbst von zentraler Bedeutung. Die Verwendung des Holzschnitts ermöglichte den Druck von Kunstwerken in Serie, was zu einer breiten Rezeption seiner Werke in der Bevölkerung führte. Dabei zeigte sich Hokusais Meisterschaft in der Detailtreue, der Klarheit der Linien und der Intensität der Farben, die bis heute eine große Faszination ausüben.
Einfluss auf Impressionismus und Jugendstil
Der Einfluss des japanischen Farbholzschnitts und insbesondere der Einfluss Hokusais auf die westliche Kunstgeschichte ist immens. So gelangten seine Werke nach der Öffnung Japans Mitte des 19. Jahrhunderts durch Handelskontakte, vor allem mit den Niederlanden, nach Europa. Die Pariser Weltausstellung von 1867 war ein entscheidender Moment, der seine Werke einem breiten europäischen Publikum zugänglich machte. Die Begegnung mit der japanischen Kunst führte zum so genannten Japonismus, einer Bewegung, die westliche Künstler dazu inspirierte, Elemente der japanischen Ästhetik in ihre Werke zu integrieren.
Der französische Grafiker Félix Bracquemond entdeckte die Manga (Skizzenbücher) von Hokusai und zeigte sie begeistert seinen Künstlerkollegen wie Manet, Degas und Whistler. Die klaren Linien, die reduzierte Farbgebung und der innovative Einsatz der Perspektive in Hokusais Werken beeinflussten daraufhin die westliche Malerei maßgeblich. Vor allem die französischen Impressionisten wie Claude Monet und Edgar Degas waren von Hokusais klaren Linien, der flachen Perspektive und der Komposition fasziniert. Monet besaß 23 Grafiken von Hokusai und ließ sich von seinen Farbholzschnitten inspirieren. Auch Vincent van Gogh bewunderte Hokusais Werke und schrieb in einem Brief an seinen Bruder Theo über deren Bedeutung. Auch der Jugendstil griff stilistische Merkmale Hokusais auf, wie die dekorative Linienführung, den schwarzen Kontour und die Verbindung von Naturmotiven mit grafischer Klarheit. Hokusais von europäischen Techniken beeinflusste Verwendung der Perspektive und die Einführung eines grauschwarzen Blaus als dominierende Farbe beeindruckten die westlichen Künstler nachhaltig. Auch seine Darstellungen von Naturgewalten, wie Die große Welle vor Kanagawa, setzten neue Maßstäbe für das Verhältnis von Mensch und Natur in der Kunst.
Hokusais Werke trugen letztlich entscheidend dazu bei, die westliche Kunst aus den starren Konventionen der akademischen Malerei zu befreien. Sie inspirierten Künstler, neue Kompositionsformen, Farbschemata und Perspektiven zu erforschen. Sein Einfluss reicht vom Impressionismus über den Jugendstil bis zur Ästhetik des modernen Grafikdesigns – ein Beweis für die zeitlose Kraft seiner Kunst.
Bereits 2011 widmete der Martin-Gropius-Bau in Berlin dem großen japanischen Künstler eine umfassende Retrospektive mit über 400 Werken aus allen Schaffensphasen. Diese große und erfolgreiche Hokusai-Retrospektive war ein wichtiger Schritt für die Rezeption seines Werkes außerhalb Japans und ermöglichte es einem breiten Publikum, Hokusais Wandelbarkeit und seinen Einfluss auf die westliche Kunst zu entdecken. Das neue Buch Hokusai – Maximus geht nun weit über diese Ausstellung hinaus. Mit über 700 Seiten und 746 Abbildungen bietet es eine umfassende Sammlung von Hokusais Werken – von seinen frühen Holzschnitten bis zu seinen späten Rollbildern auf Seide. Andreas Marks, ein Experte für japanische Kunst, hat die Werke sorgfältig ausgewählt und in ihren historischen Kontext eingeordnet. Besonders hervorzuheben ist die Qualität der Reproduktionen, die dank einer internationalen Kampagne zur Neufotografie der Kunstwerke außergewöhnlich detailreich sind. Damit ist Hokusai – Maximus ein unverzichtbares Werk für Kunstliebhaber und Historiker gleichermaßen. Es zeigt nicht nur die künstlerische Genialität Hokusais, sondern vermag durch seinen chronologischen Aufbau und seine fundierten Analysen die Bedeutung dieses Ausnahmekünstlers für die Kunstwelt wieder ins Bewusstsein zu rufen.
Der Autor:
Andreas Marks studierte ostasiatische Kunstgeschichte an der Universität Bonn und wurde an der Universität Leiden mit einer Dissertation in Japanologie zu Schauspielerdrucken des 19. Jahrhunderts promoviert. Von 2008 bis 2013 war Marks Direktor und Chefkurator des Clark Center for Japanese Art im kalifornischen Hanford. Seit 2013 ist er Mary Griggs Burke Curator of Japanese and Korean Art sowie Direktor des Clark Center for Japanese Art am Minneapolis Institute of Art.
Hokusai, Hardcover, in Leinen gebunden, mit Leseband, 29 x 39.5 cm, 722 Seiten, ISBN 978-3-8365-9188-1 Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch), Taschen-Verlag