Kraft der Farbe, Macht der Form – Expressionismus in der Kunsthalle Mannheim

Text: Alexandra Wendorf

Es ist eine Szene vermeintlicher Idylle: Badende schwimmen im Wasser und unterhalten sich am Strand unter einem großen markanten Baum, dessen Stamm und Äste in einem glühenden Rot erstrahlen. Die expressive Farbgebung und grobe Pinselführung führt jedoch nicht zu einem friedlich wirkenden Eindruck, sondern wirkt pulsierend oder gar bedrohlich, als würde sich die Natur in innere Erregung verwandeln. Ernst Ludwig Kirchners 1913 entstandenes Gemälde entfaltet eine ungeheure Kraft, indem es Farbe und Form nicht zur Abbildung, sondern zum Ausdruck seelischer Spannungen einsetzt. So wird das Ursprüngliche, Wilde und Ungebändigte der Natur sichtbar – exemplarisch für jene emotionale und radikal expressive Bildsprache, die den Expressionismus prägte und seit dem 26. September Besucherinnen und Besucher der Kunsthalle Mannheim in die aufwühlende Welt dieser künstlerischen Bewegung der Moderne zieht.

Die Ausstellung „Kirchner, Lehmbruck, Nolde. Geschichten des Expressionismus in Mannheim” präsentiert bis zum 11. Januar 2026 bedeutende Werke dieser künstlerischen Avantgarde. Mannheim war seit jeher ein wichtiger Schauplatz für diese Bewegung, die zu den aufregendsten und radikalsten der Moderne zählt. Die Ausstellung lädt dazu ein, sie neu zu entdecken. Mannheim war früh ein Zentrum dieses künstlerischen Aufbruchs, der seit 1905 über Gruppen wie „Brücke“ und später den „Blauen Reiter“ die gesamte Kunstlandschaft veränderte. Die Ausstellung präsentiert Hauptwerke aus den eigenen Beständen sowie von namhaften Leihgebern und stellt sie in einen dynamischen Kontext historischer Brüche, Neuanfänge sowie kritischer Diskussionen über die Sammlungspolitik und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jener Zeit.

Expressionismus – Aufbruch in eine neue Moderne

Der deutsche Expressionismus entstand als künstlerische Reaktion auf den rasanten gesellschaftlichen Wandel in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, der von Industrialisierung, Urbanisierung und tiefen sozialen Spannungen begleitet war. Diese um 1905 in Dresden („Brücke“) und München („Blauer Reiter“) entstandene künstlerische Bewegung rückte das expressive Streben nach innerer Wahrheit, Emotion und Farbdynamik in den Mittelpunkt. Sie war eine Reaktion auf die Entfremdung und Umbrüche der Moderne: Künstler wie Kirchner, Marc, Münter, Pechstein, Heckel, Schmidt-Rottluff, Nolde und Kandinsky lehnten die akademische Tradition ab und suchten neue Ausdrucksformen für innere Wahrheiten und das subjektive Lebensgefühl. Sie setzten expressive Farben, abstrakte Formen und radikal neue Perspektiven ein, um existenzielle Themen wie Einsamkeit, Elend, Tod, Angst und Entfremdung zu beleuchten. Der Expressionismus feierte das „Wilde“, Ursprüngliche und Emotionale. Dabei wurde die Wirklichkeit oft zugunsten einer intensiven, beinah tragischen Seelenlandschaft aufgelöst. Die Werke galten zur Zeit des Nationalsozialismus als „entartet“ und wurden aus Museen entfernt. Doch ihr Einfluss reicht bis weit in die Gegenwart und macht den Expressionismus zu einer fundamentalen Strömung der modernen Kunst.

Ein kritischer Übergang findet sich in der Einordnung Emil Noldes unter den Expressionisten. Während Künstler wie Macke die künstlerische Freiheit, den Austausch und die offene Gesellschaft betonten, zeigte Nolde ab den 1930er-Jahren eine Nähe zu nationalsozialistischen und antisemitischen Denkweisen. Dies hat zur Folge, dass sein Werk und seine Biografie heute differenziert betrachtet werden müssen. Anders als lange angenommen war Nolde kein reines Opfer der NS-Diktatur, sondern er suchte selbst die Anerkennung als „deutscher“ Künstler und stand den Machthabern ideologisch nahe. Ausstellungen und Forschungsprojekte beleuchten heute seine politische Haltung und positionieren ihn innerhalb der Bewegung sehr viel kritischer als zuvor. Dabei wird deutlich, dass künstlerische Innovation und menschliche Ambivalenz eng miteinander verflochten sind.

Franz Marc: Drei Tiere, 1912, Kunsthalle Mannheim, 
Foto: © Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas
Ernst Ludwig Kirchner: Gelbes Engelufer, Berlin, 1913, Kunsthalle Mannheim, Foto: © Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas

Die Ausstellung in Mannheim bietet die Möglichkeit, den Expressionismus in diesem neu zu bewertenden historischen Spannungsfeld zwischen individueller Befreiung und gesellschaftlichem Umbruch zu entdecken. Sie erinnert auch daran, wie sehr das expressive Streben nach innerer Wahrheit und künstlerischer Grenzüberschreitung die deutsche Kunst bis heute prägt. Dabei setzt sie sich nicht nur mit den künstlerischen Innovationen, sondern auch mit den gesellschaftlichen und politischen Ambivalenzen der Bewegung auseinander. Sie bietet einen inspirierenden Anlass, den deutschen Expressionismus neu zu entdecken oder das eigene Wissen darüber zu vertiefen. Viele weitere, zahlreiche Museen und Institutionen in Deutschland laden dazu ein, die faszinierende Vielfalt dieser Kunstrichtung zu erleben.

Vielseitige Museenlandschaft zum Expressionismus

Im August Macke Haus in Bonn, dem ehemaligen Wohn- und Atelierhaus des bedeutenden expressionistischen Malers, werden Leben und Werk Mackes sowie des Rheinischen Expressionismus auf authentische Weise vermittelt. Hier wird die rheinische Ausprägung des Expressionismus eindrucksvoll sichtbar. In Köln präsentiert das Museum Ludwig mit der Sammlung Haubrich Werke von Kirchner, Heckel, Schmidt-Rottluff, Marc und weiteren Hauptvertretern der „Brücke“ und des „Blauen Reiter“. Das Brücke-Museum in Berlin widmet sich speziell den Künstlern der „Brücke“-Gruppe und pflegt einen forschungsorientierten Zugang zu ihrer Kunst. Die Nolde Stiftung Seebüll an der Nordseeküste bietet mit dem original erhaltenen Wohnhaus und wechselnden Ausstellungen einen intensiven Einblick in das Werk und die Biografie von Emil Nolde, dessen komplexe Position innerhalb des Expressionismus dort kritisch beleuchtet wird. In München zeichnet das Lenbachhaus mit der größten Sammlung des „Blauen Reiter“ und Werken von Kandinsky, Marc, Münter, Jawlensky und Macke das Panorama des expressionistischen Modernismus lebendig nach.

Die Museen der „MuSeenLandschaft Expressionismus“, darunter das Franz Marc Museum, das Buchheim Museum und das Schlossmuseum Murnau im Alpenvorland, das Museum Folkwang in Essen, die Stiftung Rolf Horn auf Schloss Gottorf und das Kunstmuseum Paderborn, bereichern die vielfältige Landschaft expressionistischer Sammlungen in Deutschland. Sie alle bieten unterschiedliche regionale Perspektiven auf einen epochalen Kunststil, der die deutsche Moderne maßgeblich geprägt hat.

Diese Museen zeigen die vielschichtige Geschichte des Expressionismus in Deutschland, regen zur Reflexion über seine künstlerischen Innovationen und gesellschaftspolitischen Ambivalenzen an und ermöglichen ein umfassendes Erleben des kreativen Erbes dieser ebenso kraftvollen wie widersprüchlichen Epoche.


Information zur Ausstellung sowie Links zu den Museen und Sammlungen, die Kunstwerke, Künstler und Künstlerinnen des Expressionismus präsentieren:

Titelbild: Ernst Ludwig Kirchner, Roter Baum am Strand, 1913, Sammlung Fuchs-Werle, Foto: © Thomas Henne

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