Marina Abramović

Text: Xiao Xiao

Das Kunsthaus Zürich zeigt bis zum 16.02.2025 eine Retrospektive der Kunst einer der weltweit bekanntesten Performancekünstlerinnen: Marina Abramović. Die Retrospektive ist die erste Ausstellung in der Schweiz, die Abramovićs multimediale Arbeiten wie Fotografie, Videokunst, Skulptur und Zeichnung aus allen Schaffensphasen in einem umfassenden Rahmen präsentiert.
Anlässlich dieser Ausstellung möchte ich der Künstlerin einen Text widmen. Denn ich glaube, dass Abramovićs Performance-Kunst in Zeiten der Krise viele Fragen aufwirft. Fragen, die sowohl die Kunst als auch die Gesellschaftspolitik betreffen. Künstler/innen, die zeitgenössische Kunst schaffen, werden nach ihrer Position zu der Problematik gefragt, in der jeder von uns lebt. Die Kunst als eine der Möglichkeiten, in denen die Freiheit des Ausdrucks notwendig ist, bietet Raum für eine komplexe Antwort auf soziale Fragen, die sowohl die Schwäche als auch die Stärke des Menschen berücksichtigt. In dieser Hinsicht spüre ich die Kraft der Performance Art, die das menschliche Verhalten unter bestimmten Umständen als ästhetisches Objekt zeigt.

Auf Chinesisch heißt Performance Art die Kunst des menschlichen Verhaltens 行为艺术. Wie man sich unter welchen Umständen verhält, trägt die Idee der performativen Darstellung in sich.
Ein ästhetisches Objekt, das stark mit dem Zufall verbunden ist, ist nicht nur eine Frage des Zeigens, vielmehr ist der Raum im Prozess einer performativen Präsentation offen, in dem die Reaktion des Publikums als unverzichtbarer Teil der gesamten Performancekunst erwartet wird. In diesem spannungsreichen Verständnis von Präsentation der künstlerischen Idee möchte ich die Performancekunst von Marina Abramović neu betrachten.

Als junges Publikum war ich fasziniert von der revolutionären Kraft von Abramovićs Performance. Der Mut, mit dem sie auf unterschiedliche Weise mit tabuisiertem Schmerz umging, war der Punkt ihrer Kunst, der mich berührte. Heute sehe ich viele Bedeutungsebenen von Abramovićs Performance, dass sie politisch, sozial und spirituell ist. Vor allem die spirituelle Dimension, in der ihre Kunst das Bewusstsein öffnet, gibt mir eine Ahnung davon, warum die Beschäftigung mit den Künsten gerade heute so wichtig ist.


In einem technisierten, wissenschaftsbesessenen und globalisierten Zeitalter, das gleichzeitig von Glaubenskrisen und Vertrauensbrüchen in der (inter)nationalen Politik geprägt ist, muss sich die zeitgenössische Kunst eine Gegenposition leisten, in der Fragen ernsthaft gestellt werden können: Wie wirkt sich diese scheinbar unkontrollierbare Technisierung auf die Umwelt und das menschliche Leben aus? Wie gehen wir damit um, dass diese Technisierung schneller wächst als alles andere auf der Welt? Welcher Raum bleibt dem Menschen in seiner körperlichen und geistigen Welt, wenn die Technik immer mehr menschliche Arbeit übernimmt?

Die Suche nach angemessenen Antworten kann schmerzhaft sein. Diese Schmerzen, die uns stören, ins Auge zu fassen, sie körperlich zu erfahren, ist das Ziel der Zen-Praxis. Man fügt den Schmerz hinzu, um die Frage zu sehen, was die menschliche Existenz bedeutet. Eine Antwort auf diese Frage schließt durch die Erfahrung des Schmerzes den körperlichen Aspekt mit ein, so dass man sich seiner Endlichkeit und Sterblichkeit bewusst wird. Eine Auseinandersetzung mit der Endlichkeit der menschlichen Existenz, die nicht tabuisiert wird, wirkt der Tendenz entgegen, dass Menschen versuchen, sich durch technische Möglichkeiten unsterblich zu machen. Wenn die künstliche Intelligenz den Bereich der Künste noch in Ruhe lässt, können wir das freie Denken in den Künsten feiern.

Es ist ein Denken, das auf Vernunft beruht, aber nicht um des eigenen Vorteils willen kalkuliert; es ist ein Denken, das körperliche Erfahrungen berücksichtigt; es ist ein Denken, das sich erlaubt, sich in Mehrdeutigkeiten zu bewegen und sich dadurch der Eindeutigkeit bewusst wird, weil unser kognitiver Verstehensprozess auf der Suche nach Eindeutigkeit beruht. Eine schmerzliche Tatsache ist jedoch, dass die Wirklichkeit mehrdeutig ist.

Um mit dieser Tatsache zu leben, kann die Beschäftigung mit den Künsten heilsam sein. Die Kraft von Abramovićs Performance-Kunst, mit der sie konventionelle Regeln durchbricht und uns auf die Gegenwart aufmerksam macht, in der wir in einem kulturellen Pluralismus zusammenleben, wirkt der Beschleunigung des Lebens entgegen. Dies ist jedoch kein Effekt des Yoga, den man durch die Teilnahme an einem Yogakurs erlangt, sondern liegt in der Willenskraft, frei und reflektiert zu denken.

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