Text: Alexandra Wendorf
Es ist eine leise, fast intime Ausstellung – und gerade deshalb eine große. Das Städel widmet in diesem Winter Max Beckmann (1884–1950) eine Schau, die nicht seine ikonischen Gemälde, sondern die Zeichnung in den Mittelpunkt rückt – einen Bereich, den selbst Kenner oft nur als Randnotiz wahrnehmen. Rund 80 Blätter aus allen Schaffensphasen eröffnen einen selten gewährten Blick auf Beckmanns künstlerisches Denken – unmittelbar, roh, ungefiltert.
Während Beckmanns Gemälde mit ihrer monumentalen Symbolsprache längst Kunstgeschichte geschrieben haben, offenbaren seine Zeichnungen eine andere Seite des Künstlers. Hier experimentiert er, verwirft, sucht neue Formen, fängt Situationen ein, die zu Keimzellen späterer Bildwelten werden. Zeichnen war für ihn kein Nebenprodukt, sondern ein existenzielles Medium, eine Praxis, die den Alltag strukturierte und seine künstlerische Sprache permanent schärfte.
Die Frankfurter Ausstellung profitiert dabei in besonderer Weise vom reichen Bestand des Hauses. Dank der großen Dauerleihgabe der Sammlung Karin und Rüdiger Volhard verfügt das Städel seit einigen Jahren über einen der bedeutendsten Beckmann-Bestände weltweit. Viele der gezeigten Arbeiten sind sonst nicht öffentlich zugänglich oder wurden seit Jahrzehnten nicht mehr ausgestellt.
Zeichnungen als Denkraum
Die Auswahl der Blätter macht deutlich, wie eng Beckmanns Biografie mit diesem Medium verwoben ist. Frühe Studien zeigen ihn in der Suchbewegung einer Generation, die sich nach 1900 zwischen akademischer Tradition und neuer Formensprache behaupten wollte. In den Frankfurter Jahren, der vielleicht wichtigsten Phase seines Werks, nehmen die Zeichnungen zunehmend jene Strenge und Verdichtung an, die später zu seinem unverwechselbaren Stil werden. Und im Exil, zuerst in Amsterdam, später in den USA, erscheinen sie als Rückzugsraum: als zweidimensionale Orte für die Verarbeitung eines immer prekärer werdenden Daseins.
Die Ausstellung verfolgt diese Linien nicht didaktisch, sondern atmosphärisch. Sie schafft Räume, in denen sich Beckmanns wiederkehrende Themen – Theater, Mythos, Großstadt, Selbstentwürfe – zu einem Geflecht aus Motiven verbinden. Wer seine Gemälde kennt, erkennt vieles wieder; wer ihn erst in dieser Ausstellung entdeckt, begegnet einem Künstler, der im Zeichnen beinahe analytischer ist als in seinen großen Tableaus.
Ein Künstler für unsere Zeit
Kuratiert wird die Schau von Hedda Finke, Regina Freyberger und Stephan von Wiese – jenen Kunsthistorikern, die gleichzeitig das neue dreibändige Werkverzeichnis der Beckmann-Zeichnungen verantworten. Dass Ausstellung und Forschung so eng verschränkt sind, ist ein Glücksfall: Selten ist wissenschaftliche Präzision so unmittelbar im Ausstellungsraum spürbar, ohne die ästhetische Erfahrung zu überlagern. Die Präsentation erklärt nicht, sie zeigt – und vertraut darauf, dass die Zeichnungen selbst sprechen können.
Parallel zur Ausstellung ist im Hirmer Verlag ein Begleitband erschienen, der als komprimierte „Lesefassung“ des monumentalen Werkverzeichnisses gelten kann. Für Besucherinnen und Besucher vertieft er die Eindrücke der Schau; für die Forschung setzt er neue Maßstäbe. Der Katalog setzt genau hier an. Ebenfalls herausgegeben von Hedda Finke, Regina Freyberger und Stephan von Wiese, versammelt der Band auf knapp 190 Seiten Essays und einen reich bebilderten Katalogteil. Der Katalog folgt diesem Gedanken und führt die Leserinnen und Leser in einer chronologisch gebrochenen, thematisch sensiblen Dramaturgie durch Beckmanns Biographie: von der Frühzeit in Berlin, in der sich der junge Künstler noch tastend dem Medium Zeichnung nähert, über die Frankfurter Jahre (1915–1933), in denen sich die charakteristische Verdichtung der Bildräume und die emblematische Bildsprache ausbilden, bis hin zu den Exiljahren in Amsterdam und den USA, in denen sich die Zeichnung als besonders verletzliche, aber auch widerständige Form der Weltdeutung erweist.
Die Zeichnungen werden – so legt es die enge Verzahnung mit dem Werkverzeichnis nahe –nicht mehr als bloße Vorstufen zu Gemälden behandelt, sondern als eigenständige Denk- und Bildräume. Dass der Katalog eng an das parallel erscheinende dreibändige Werkverzeichnis gekoppelt ist, macht ihn zugleich zu einer Art konzentrierter „Lesefassung“ dieses Großprojekts
Der zeichnerische Kosmos Beckmanns
Die Ausstellung und der Katalog zeichnet der Anspruch aus, nämlich mit rund 80 Arbeiten aus allen Schaffensphasen Beckmann als „eigenwilligen Weltinterpreten“ zu zeigen. Zeichnen sei für ihn „existentiell“ gewesen: Mit Bleistift, Kreide, Feder und Pastell habe er Motive gesammelt, neue formale Lösungen erprobt, Bild-Erfindungen entwickelt und seine Weltanschauung geformt.
Was die Ausstellung dabei besonders eindrücklich zeigt: Beckmanns Blick auf die Welt ist ein moderner. Seine Zeichnungen, so unmittelbar sie wirken, reflektieren politische Katastrophen, gesellschaftliche Spannungen und existentielle Krisen – und tun dies mit einer Bildsprache, die sich bis heute nicht verbraucht hat. Vielleicht ist es gerade dieses fragmentarische, suchende Zeichnen, das in einer Gegenwart voller Umbrüche so aktuell erscheint.
Beckmann
Städel Museum, Frankfurt am Main. Die Ausstellung läuft noch bis zum 15.3.2026.
Der Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen, Softcover, EAN: 9783777446226, Zeichnungen / Drawings. 110 Abbildungen. Sprachen: Deutsch, Englisch. Herausgegeben von Stephan von Wiese, Hedda Finke, Regina Freyberger. Preis 45 Euro. Versandkostenfrei zu beziehen beim Velbrück-Shop.
Titelbild: Max Beckmann (1884–1950), Der Mord, 1933, Aquarell und Pinsel in Schwarz über schwarzer Kreide, 498 × 455 mm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Dauerleihgabe aus der Sammlung Karin & Rüdiger Volhard



