Text: Arthur Bach
Der Sommer neigt sich dem Ende zu, und drei Viertel des Kulturhauptstadtjahres sind bereits vergangen – höchste Zeit also für einen Zwischenblick auf Chemnitz. Die sächsische Stadt, die lange als „unsichtbar“ betrachtet wurde, tritt 2025 mit dem Motto „See the Unseen“ ins Rampenlicht Europas. Ziel ist es, die verborgenen Seiten sichtbar zu machen: vom industriellen Erbe bis zu neuen Formen bürgerschaftlicher Kultur.
Chemnitz möchte sich von seiner Vergangenheit als graue Industriestadt lösen und ein anderes Gesicht zeigen. Internationale Medien bescheinigen der Stadt bereits Erfolg: Die Times lobt Chemnitz als „ungewöhnlichstes Reiseziel Europas“ und die Welt spricht von einer „Chance zur Transformation“. Auffällig ist, wie stark das Programm auf Partizipation setzt: Nicht große Leuchtturmprojekte, sondern viele kleine, von Bürgern getragene Initiativen prägen das Bild.
Die Künstlerinnen und Künstler wagten sich hinaus in die Landschaft, um die Flüchtigkeit des Augenblicks direkt festzuhalten. In der Ausstellung begegnen die Besucher:innen Werken von Größen wie Anna Ancher, Peder Severin Krøyer, Bruno Liljefors, Helene Schjerfbeck und Christian Skredsvig. Darunter befinden sich zahlreiche Gemälde aus der renommierten Sammlung Fielmann, die erstmals in dieser Dichte öffentlich gezeigt werden.
Kleine und große Projekte machen Chemnitz so spannend
Drei Beispiele stehen stellvertretend für die Vielfalt des Programms: „Purple Path” ist ein Kunstpfad, der über Stadtgrenzen hinweg ehemalige Industriestandorte mit zeitgenössischer Kunst verbindet. An diesem europaweit einmaligen Skulpturenprojekt sind mehr als 30 Standorte beteiligt, darunter internationale und regionale Künstler:innen wie James Turrell, Tony Cragg und Jana Gunstheimer. Bei #3000Garages verwandeln sich leerstehende Garagen in Werkstätten, Bühnen und Ateliers – ein Symbol für neue Nutzungen des Alltäglichen und kreativen Aufbruchs in der Stadt. Beim Projekt „Offener Prozess“ entsteht ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex, das sich intensiv mit Erinnerungskultur und gesellschaftlicher Verantwortung auseinandersetzt. Daneben gibt es große Ausstellungen, etwa zu Edvard Munch („Angst“, noch bis zum 2. November 2025) und zur Realismustradition, durch die sich Chemnitz in den europäischen Kunstkanon einordnen lässt.
Die ersten Monate zeigen, dass das Konzept aufgeht: Bislang haben über 1.000 Veranstaltungen stattgefunden. Festivals wie das KOSMOS-Festival für Kultur und Demokratie lockten rund 115.000 Besucher:innen an, während das Hat Festival doppelt so viele Gäste wie in den Vorjahren zählte. Auch die Museen profitieren. Die Kunstsammlungen Chemnitz verzeichneten bereits über 60.000 Besucher – doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum 2024.
Der Effekt reicht über die Kultur hinaus: Hotels verzeichnen deutliche Zuwächse, Stadtführungen haben sich mehr als verdreifacht und rund 1.000 Freiwillige beteiligen sich aktiv am Programm. Chemnitz erfährt spürbar mehr Aufmerksamkeit, nicht nur in Sachsen, sondern europaweit.
Europäische Partnerschaft und außergewöhnliche Orte
Chemnitz teilt sich den Titel mit Nova Gorica und Gorizia in Slowenien. Diese Partnerschaft macht durch gemeinsame Projekte und Austauschprogramme die europäische Idee sichtbar. Viele Veranstaltungen finden in ehemaligen Industrieanlagen, Garagenquartieren oder auf der Küchwaldwiese statt. Selbst das historische Eisenbahnnetz wird als Ausstellungsort genutzt und ermöglicht so neue Perspektiven auf die Stadt und ihre Region.
Ein Kulturjahr dieser Größe bleibt nicht ohne Reibungen. So sorgte die Street-Art-Ausstellung Ibug mit antisemitismus-kritischen Vorwürfen für Schlagzeilen. Die Veranstalter reagierten schnell, entfernten die betreffenden Werke und stellten klar, dass Menschenwürde und Toleranz nicht verhandelbar sind. Der Vorfall zeigt, dass in Chemnitz bereit ist, diese Debatten offen zu führen. Neben Kunst und Kultur spielt auch Sport eine große Rolle: Mit dem European Peace Ride, Marathonläufen und zahlreichen Mitmachangeboten schafft Chemnitz. Über 30 Kommunen aus den Regionen Mittelsachsen, Erzgebirge und Zwickau sind eingebunden – ein europaweit einzigartiges Netzwerk, das die Entwicklung der Region langfristig stärken soll.Ausblick und kommende VeranstaltungenInsgesamt werden bis zu zwei Millionen Besucher und Besucherinnen erwartet. Doch jenseits der Zahlen stellt sich die entscheidende Frage: Wird Chemnitz das Jahr 2025 als Wendepunkt nutzen? Kann aus einem einmaligen Kulturhöhepunkt eine dauerhafte Stärkung von Identität und Selbstbewusstsein erwachsen?
Fest steht: Drei Viertel sind geschafft, doch die entscheidende Zeit danach steht erst noch bevor. Chemnitz zeigt, dass eine Kulturhauptstadt mehr sein kann als ein riesiger Event – sie ist ein Instrument des Wandels, gerade dort, wo man ihn am wenigsten vermutet. Und so könnte man auch sagen: Chemnitz 2025 – Europäische Kulturhauptstadt im Wandel – und noch lange nicht am Ziel.
Geplante Veranstaltungen noch bis zum Jahresende
- European Peace Ride: 9.–13. September – internationale Fahrradveranstaltung mit gesellschaftlichem Impuls.
- Light our Vision – Lichtkunstfestival: 24.–27. September – die Stadt wird zur Bühne für zeitgenössische Lichtkunst.
- SCHLiNGEL – Internationales Filmfestival für Kinder und junges Publikum: 27. September – 4. Oktober.
- Spätschicht: 14. November – Nachtschicht für Kultur und Kreativität.
- Maker Advent: 24. November – 23. Dezember – kreative Mitmachangebote für die Vorweihnachtszeit.
- Chemnitzer Weihnachtsmarkt und Bergparade: ab 28. November.
- Feierlicher Abschluss des Kulturhauptstadtjahres: 29. November 2025 mit Festprogramm und Reflexionen.
- Zwischendurch Konzerte von Stars wie Die Fantastischen Vier und weitere überraschende Events.
C: See the unseen – Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025
Weitere Informationen zu den Veranstaltungen: hier.