Zwischen Albtraum und Aufklärung: Goyas grafisches Werk

Text: Alexandra Wendorf

Wer einmal vor Goyas „Desastres de la Guerra” stand oder in die traumartig-surrealen Szenerien seiner späten Radierungen geblickt hat, kennt dieses unvergessliche Gefühl: Die Figuren wirken, als seien sie aus Schatten und Licht modelliert und schwebten zwischen Wirklichkeit und Albtraum. Manche seiner grafischen Blätter zeigen mit brutaler Genauigkeit die Würdelosigkeit des Krieges, während andere eine fast metaphysische Leichtigkeit entfalten, in der Fantasie, Angst und Vision ineinander übergehen. Genau diese Mischung aus Realitätsschärfe und visionärer Überhöhung macht Goyas grafisches Werk zu einem der eindrucksvollsten Zeugnisse der europäischen Kunst. Die im TASCHEN Verlag erschienene neue Clothbound-Classics-Ausgabe „Goya. The Complete Prints” würdigt dieses Œuvre auf eine Weise, die seiner Bedeutung angemessen ist.

Das rund 600 Seiten starke Buch versammelt alle 287 Radierungen und Lithografien, die Francisco de Goya im Laufe seines Schaffens geschaffen hat. Es zeigt eindrucksvoll, wie umfassend, mutig und experimentell Goya die Möglichkeiten der Druckgrafik nutzte – von der Radierung über die Aquatinta bis hin zur frühen Lithografie. Dank des großzügigen Formats, der hochwertigen Leinenbindung mit Schuber und der gestochen scharfen Reproduktionen erlebt man eine Nähe zu den Blättern, wie sie sonst nur im Museum möglich ist. Jede feine Linie, jeder Tonwert der Aquatinta und jede technische Imperfektion der Druckplatte werden sichtbar und machen nachvollziehbar, wie präzise und zugleich emotional aufgeladen Goya mit diesem Medium arbeitete.

Goyas Druckgrafik – Laboratorium der Moderne

Goyas große druckgrafische Serien – die „Caprichos“, die „Desastres de la Guerra“, die „Tauromaquia“ und die „Disparates“ – zählen zu den radikalsten Bildzeugnissen ihrer Zeit. Sie dokumentieren die geistigen und politischen Erschütterungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, darunter den Konflikt zwischen Aufklärung und Aberglauben, die Brutalität des Krieges, den Missbrauch religiöser Autorität sowie die Verführbarkeit des Menschen durch Irrationalität und Machtfantasien. Die Druckgrafik war für Goya kein Nebenmedium, sondern sein persönlichstes Laboratorium. Hier konnte er experimentieren, kritisieren, fantasieren und Grenzen überschreiten, die in der Malerei und der Hofkunst undenkbar gewesen wären.

Die editorische Leistung von José Manuel Matilla und Anna Reuter trägt dieser Tiefe mit großer Sorgfalt Rechnung. Matilla ist Leiter der Abteilung für Zeichnungen und Druckgrafik am Museo del Prado, einer der international wichtigsten Goya-Forscher und hat mit seinen Studien zur Werkstattpraxis und zur Struktur der Serien maßgebliche Grundlagen geschaffen. Reuter ist Expertin für spanische Druckgrafik des 18. und 19. Jahrhunderts und bekannt für ihre präzisen ikonografischen und technischen Analysen. Gemeinsam kommentieren sie jedes Blatt, ordnen es historisch ein, erläutern technische Besonderheiten und zeigen auf, wie Goya seine Themen entwickelt, verschattet und variiert. Ihre Essays eröffnen nicht nur kunsthistorische, sondern auch psychologische und gesellschaftliche Lesarten.

Goya. The Complete Prints, Foto: Taschen
Goya. The Complete Prints, Foto: Taschen
Goya. The Complete Prints, Foto: Taschen

Zwischen Krieg, Wahn und Hoffnung – damals wie heute

Bemerkenswert ist, wie deutlich diese Edition die bis heute ungebrochene Aktualität von Goyas Werk zeigt. Seine berühmte Radierung „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ könnte ohne jede Veränderung als Kommentar zur Gegenwart gelesen werden. Immer dann, wenn kritisches Denken einschläft, entstehen Dämonen – früher waren es Aberglauben und Inquisition, heute sind es Verschwörungsmythen, digitale Echokammern, religiös aufgeladener Nationalismus oder politische Heilsversprechen, die die Rationalität ersetzen sollen. Die Caprichos entlarven jene bis heute wirkenden Mechanismen von Verführung und Selbsttäuschung. Und die „Desastres de la Guerra” gehören zu den eindringlichsten Mahnungen gegen die Dehumanisierung des Menschen. Sie zeigen die Wirklichkeit des Krieges nicht als Heldentum, sondern als Leiden, Verlust und moralischen Zusammenbruch.

Goya wusste, dass das Irrationale ein dauerhafter Begleiter des Politischen bleibt. Sein Werk zeigt, wie dünn die Linie zwischen Hoffnung und Verblendung, zwischen Aufklärung und ihrem Gegenteil ist. Seine Drucke fordern uns auf: die Aufklärung nicht als abgeschlossen zu betrachten, sondern als Aufgabe, die täglich neu beginnt.

Das Irrationale früh zu erkennen, bevor es sich in Gewalt verwandelt. Mitgefühl als Fundament des Politischen zu verstehen und nicht als wohlfeile Geste. Wir sollten Kunst als Warnsystem ernst nehmen, das nicht beruhigt, sondern aufmerksam macht.

Gerade heute, in einer Zeit, in der Mythen, Spaltungen und autoritäre Tendenzen in vielen Ländern erstarken, sind diese Bilder keine historischen Kuriositäten mehr, sondern Spiegelbilder unserer eigenen Gegenwart. Sie werfen Fragen auf, die uns alle angehen: Was macht der Krieg mit einer Gesellschaft? Was passiert, wenn Vernunft marginalisiert wird? Warum kehren alte Dämonen in neuen Formen zurück?

Die TASCHEN-Ausgabe „Goya. The Complete Prints“ macht all diese Ebenen sichtbar – als umfassende dokumentarische Sammlung, als kunsthistorisches Referenzwerk und als ästhetisch beeindruckendes Objekt. Vor allem aber macht sie erfahrbar, wie sehr Goyas scharfer, skeptischer, menschlicher, ironischer und erschütterter Blick bis heute nachwirkt. Seine Druckgrafik ist ein Archiv der Moderne im Werden, ein Spiegel der menschlichen Natur und ein Korrektiv für eine Zeit, die ihre eigenen Ungeheuer hervorbringt.

Über die Autoren: 

Anna Reuter promovierte an der Philipps-Universität Marburg in Kunstgeschichte. Sie wirkte an zahlreichen spanischen und internationalen Ausstellungsprojekten sowie an wissenschaftlichen Publikationen zur europä­ischen und spanischen Kunst mit. Als freie Wissenschaftlerin forscht sie über Franscico de Goya und die Zeichnungen der Alten Meister.

José Manuel Matilla ist Leiter der Grafischen Sammlung des Prado. Zuvor koordinierte er die Aktivitäten der Calcografía Nacional de la Real Academia de Bellas Artes de San Fernando in Madrid. Seinen Forschungsschwerpunkt bilden Zeichnungen und Druckgrafiken Goyas sowie Kupferstiche des 17. Jahrhunderts.


Goya. The Complete Prints

Hardcover im Schuber, 24, 3 x 30, 4 cm, 600 Seiten, Neuerscheinung im Taschen Verlag 2025, ISBN 978-3-8365-8151-6. Preis 100 Euro. Versandkostenfrei zu beziehen beim Velbrück-Shop.

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