„Das Unsichtbare sichtbar machen“ – Porträtkunst von Tongyan Runan

Der chinesische Künstler und Professor an der National Kunstakademie in Hangzhou, Tongyan Runan, konzentriert sich seit Jahren auf das Gebiet der Porträtkunst. Seine Werke unterscheiden sich von der Porträtmalerei aus der westlichen Kunstgeschichte, da sie vor dem Hintergrund der altchinesischen Philosophie des Daoismus geschaffen werden. Wichtig ist in der daoistischen Denkweise die Verwirklichung, nämlich der Weg (Dao 道).

Kunstgeschichtlich betrachtet hat die Entwicklung der Porträtmalerei hauptsächlich zwei Dimensionen. Zum einen gehört der größte Teil der westlichen Kunstgeschichte zum System der „Bildreproduktion“. Dazu gehören die griechisch-römische Kultur, die italienische Renaissance, der Barock, der Neoklassizismus und der Impressionismus (einschließlich Abstraktion und Konzeptkunst im weiteren Sinne). Dieses System konzentriert sich auf die Reproduktion, Illustration und Erzählung des menschlichen Aussehens und der emotionalen Ausstrahlung und macht es so zu einem Spiegelbild der realen Welt. Protagoras sagte den berühmten Satz: „Der Mensch ist der Maßstab aller Dinge“. Durch diese systematische Sichtweise wurde die Entwicklung der Porträtkunst stark beeinflusst, das menschliche Bewusstsein ist dadurch manifestiert worden und die menschliche Existenz hat es an die Spitze des Universums gebracht. Parallel dazu bildete der Mensch seine rationale Sichtweise, um Erkenntnisse über das Universum zu gewinnen. Wenn rationales Denken eine wichtige Position in der Malerei einnimmt, hängt das Wissen über Dinge nicht mehr von den eigenen Sinnen ab, sondern vom Fortschritt von Wissenschaft und Technologie in Bereichen wie der Perspektive, Anatomie, Licht, neuen fotografischen Medien usw., die eine genauere Porträtkunst fördern. Aber diese Bilder enden mit dem Ziel der auf Logik basierten Darstellung.

Tongyan Runan, Zhan Peiying, 2020, Öl auf Leinwand, 41×33 cm je Bild

Auf der zweiten Dimensionsebene beschäftigten sich Künstler in der Moderne im Bereich der Porträtkunst wie Cézanne, Giacometti oder Bacon mit dem Unsichtbaren im Sichtbaren. Sie studierten die menschliche Darstellung in der Prähistorie, im alten Ägypten und im Mittelalter und ließen ihre künstlerischen Erkenntnisse in ihre eigene künstlerische Entwicklung einfließen. Tongyan Runans künstlerisches Schaffen basiert ebenso auf solchen kunsthistorischen Hinweisen. In seiner Entwicklung kombiniert er seine eigene Kunstidee von der Porträtmalerei mit der altchinesischen Art der Wahrnehmung der Welt. Mit diesem Schaffenshintergrund führt seine künstlerische Sicht zu der weitreichenden Dimension des Unsichtbaren. Hier ist nicht die Rede von künstlerischer Fantasie, die von der Wirklichkeit entbunden ist. Im Gegenteil bemüht sich der Künstler um die Darstellung einer tieferen Existenzbedeutung des Porträtierten, die nicht allein optisch zu vermitteln ist; vielmehr handelt es sich bei dem Prozess um eine achtsame, allumfassende Wahrnehmung der porträtierten Person durch den Künstler. Das Bild in dieser Idee trägt in sich etwas, das sich von dem „rationalen Blick“ in der ersten Dimension unterscheidet. Das zentrale Wort ist das Gefühl, eine Art der Wahrnehmung mit allen Sinnen, mit der der Künstler seine Welt neu betrachtet. Höhlenmalereien waren schon in prähistorischer Zeit ein Kommunikationsmittel zwischen Mensch und Natur, zwischen Immateriellen und Materiellen. Der schöpferische Geist kann sich mit dem Geist der Dinge austauschen; sie durchdringen einander.

Runan im Verhältnis zu Giacometti und Bacon

Beim Betreten einer mittelalterlichen gotischen Kirche werden durch die Betrachtung der Heiligendarstellungen und der Glasmalerei, die Wirkung der Lichtverhältnisse im Raum, der Akustik sowie dem Geruch verschiedene Sinneswahrnehmungen angeregt. In dieser Situation werden die Sinne vollständig aktiviert. Sie dringen ineinander und vermischen sich. Ein sakraler Moment, in dem die Ich-Grenze überschritten wird und der Mensch eine transzendente Erfahrung macht. Die intuitive Wahrnehmung verwaltet aktiv die Erkenntnisse, die in diesem Prozess gesammelt werden. Sie machen die unsichtbare Essenz gegenwärtig erfahrbar. Giacometti stellte die Existenz von Tatsachen in Frage und bestätigte, dass sich diese Tatsachen abhängig von Zeit und Raum ständig ändern. Diese Bestätigung ist auch das Erfassen des momentanen Gefühls des Objekts in Zeit und Raum. Francis Bacon wollte dieses Gefühl direkt malerisch beschreiben. Er wollte das Gefühl als Gegenstand beschreiben und das menschliche Gefühl in fassbarer Klarheit beschreibend wiedergeben.

Die Gefühlswelt bleibt nicht auf der durch Mimik und Bewegung vermittelten optischen Ebene, vielmehr drängt sie tief in die körperlich-sensorische Ebene. Wir können ein Feld aus den verschiedenen Sinnen konstruieren: horizontal mit unterschiedlichen Sinneskategorien und vertikal mit Sinnesstiefen kann man einen Spannungsraum kreieren, in dem man die Wirklichkeit erfasst und nachvollzieht. In der zweiten Dimension wird direkt nach der aktuellen Gefühlslage und der allgemeinen Gefühlswelt des Porträtierten gesucht. Zu diesem Zeitpunkt ist das rationale Denken des Gehirns ausgeschaltet, wodurch die Bedeutung des wahrnehmenden Subjekts als auch des wahrgenommenen Objekts zurücktreten. Denn nur dadurch kann die Ausstrahlung des ursprünglichen Zustands zum Vorschein gebracht werden.

Tongyan Runan, No-Name, 2006, Öl auf Leinwand, 41*33 cm

In Zhuangzi heißt es „durch Selbstvergessenheit erkennt man sich erst“. Nach Zhuangzi steht die Selbsterkennung unerwartet mit der Selbstvergessenheit im Einklang; sie konkurrieren nicht miteinander. Auf diesem Weg wird die schöpferische Freiheit des Künstlers vollständig gewährleistet. Diese uralte ästhetische Theorie aus China lässt sich in der zeitgenössischen Historie der westlichen künstlerischen Praxis vergleichen: Cézanne, der seiner Welt wie ein Kind zuschaut, hat in seiner künstlerischen Arbeit den ursprünglichen Zustand des Gemalten durch diesen unschuldigen, vorurteilsfreien und direkten Blick zurückholen können; Giacometti, der die menschlichen Gesichter zu ungewöhnlichen Naturlandschaften abstrahiert, in denen sich die Kraft der ständigen Veränderung verbirgt, bringt in seiner künstlerischen Schöpfung die reale Existenz des Lebens hervor; Bacon, der in seiner bildnerischen Darstellung die Zusammenhänge zwischen Gesichtszügen und der dahinter steckenden Neurologie thematisiert, öffnet mit seiner Kunst eine neue Sicht auf die Porträtkunst. In deren künstlerischen Ideen wurde künstlerisches Individuum durch absolute Offenheit zur Wirklichkeit hervorgebracht, in der Künstler ihre Achtsamkeit und Konzentration statt auf sich selbst auf ihre Außenwelt gerichtet hatten. Durch diesen ideellen Wandel ist Kunst von ihrer alten Funktion der Erzählung und Narration befreit worden; Kunst ist seit der modernen Zeit zu einem Mittel geworden, mit dem Kulturschaffende ihren Blick erschließen und die Beziehung von Zeit und Raum, von Sichtbaren und Unsichtbaren veranschaulichen.

Durch alle Sinne das Unsichtbare wahrnehmen

Wir können die zweite Dimension ein Bild der Durchdringung nennen. Das heißt, in der zweiten Dimension werden alle Sinnesorgane aktiviert und jegliche mögliche Wahrnehmung erschlossen. Durch diesen Prozess erreicht man über die rein visuelle Wahrnehmungsebene hinaus eine tiefere Ebene, auf der die Reize von anderen sensorischen Wahrnehmungen angeregt sind. Das Bild ist eine Artikulation der Gefühle, die durch verschiedene sensorische Wahrnehmungen hervorgebracht worden sind. Dies ist der Weg in das Reich des Unbewussten. Wenn Tongyan Runan seine Porträts anfertigt, beginnt seine Arbeit bereits mit der Begegnung mit dem Modell, indem er diesem Angesicht zu Angesicht gegenübersitzt. Sie schauen sich gegenseitig in die Augen, und der Künstler vermeidet, zu bewerten, was er vor seinen Augen sieht. In diesem Moment beginnt, dass der Künstler die von ihm vertrauten Werte verlässt. In diesem Rezeptionsprozess widmet er sich komplett dem ihm gegenübersitzenden Menschen. Er tastet die Grenzen des sich vor ihm präsentierenden Bildes ab und versucht, diese Grenzen durchzubrechen. In Bezug auf seine Porträts stellen die in den Gesichtern des Modells sichtbaren Charaktereigenschaften diese Beschränkung dar, wie z. B. die detaillierte Beschreibung eines Gesichtszuges. Im Vorfeld der künstlerischen Hervorbringung versucht Tongyan Runan diese Beschränkungen zu umgehen und sie zu durchdringen. Das optisch Wahrnehmbare ist in seinen Augen ein Störfaktor, das Visuelle verschleiert das Wahrhaftige. Die seherische Wahrnehmung ist begrenzt. Nur durch Integration verschiedener Sinneswahrnehmungen kann das Unsichtbare erfahren werden. Diese durchdringende Kraft des Sehens in das Unsichtbare transformiert die Sichtweise von einer oberflächlichen Sicht in das Eindringen in die innere Struktur des Gesamtbildes. Der Künstler öffnet seine Wahrnehmungswelt auf seine spezifische Weise. In diesem Rezeptionsprozess verwandelt sich der Künstler im Kampf mit dem bestehenden, alten Bild, um etwas Neuartiges zu schaffen. Ein neues Gefühl, das aus fragmentierten Eindrücken verschiedener Sinne besteht, wird zu einem neu strukturierten Bild zusammengefasst, in dem alle Sinne aktiv miteinander kommunizieren. Alle sensorischen Erfahrungen werden freigesetzt und die Sinneseindrücke werden zu einer vollständigen neuronalen Aktivität vereint. Aus der Aktivität entsteht eine Vibration, die dynamische Wellenbewegungen bildet. Dieser dynamische Rhythmus ist der Kern der künstlerischen Idee Tongyan Runans, den er durch seine künstlerische Schöpfung erfassen und für seine Betrachter optisch erfahrbar machen will. Durch diese rhythmische Dynamik werden im Betrachter verschiedene Sinne aktiviert, mit denen er die vitale Kraft in dessen Schaffensprozess wahrnehmen kann. In diesem Moment ist der Künstler geistig in das Modell eingedrungen. Er ist das Modell und das Porträt wird zum Selbstporträt. In diesem Moment lebt die Spiritualität des Künstlers. Der Gedanke von der Durchdringung der Grenze beschäftigt ihn. Wenn eine Form gefesselt ist muss eine andere Form sie ersetzen. Nach Ansicht des chinesischen Künstlers Tongyan Runan kann Kunst mehr sein als das ästhetische Stilmittel der Wiedergabe einer Idee. Nur wenn das Bild in seiner transformativen Prozesshaftigkeit erlebt wird, wird die durchdringende Kraft des Bildes erfahrbar.

Autorin: Xiao Xiao

Titelbild: Tongyan Runan, Zhou Ba, 2020, Öl auf Leinwand, 41×33 cm