Nicht von dieser Welt

Text: Alexandra Wendorf

Die Ausstellung „Iris van Herpen: Sculpting the Senses“ im Musée des Arts Décoratifs in Paris, kuratiert von Cloé Pitiot und Louise Curtis, bietet einen tiefen Einblick in das Universum von Iris van Herpen. Die niederländische Haute Couture Designerin und Künstlerin, die auch als moderne Entdeckerin bezeichnet wird, überquert die Grenzen zwischen unterschiedlichen künstlerischen, handwerklichen und technischen Disziplinen sowie zwischen Themen und Kulturen. Es ist kaum zu glauben, dass diese Künstlerin erst 1985 geboren wurde – diese großartige Vielfalt, schier unendliche Ideenfülle, Phantasie und dieser grandiose Formenreichtum scheinen für ein Menschenleben eigentlich unbegreifbar. Formen, die aus einer anderen Welt – ja aus einem anderen Universum zu kommen scheinen und doch zugleich die ganze Geschichte der Tierwelt- und Pflanzenwelt sowie der des Menschen umfassen.

Die Ausbildung in klassischem Ballett hat Iris van Herpen seit frühester Zeit tiefgehend beeinflusst und ihr eine lebenslange Faszination für die Kunst der Bewegung verliehen. Die fließende Verschmelzung von Körper und Geist im Tanz steht stets als treibende Kraft hinter ihrer Designphilosophie. Indem sie Bewegung als transformative Kraft begreift, schafft es Van Herpen, ihre Kleidungsstücke bzw. Kunststücke über die Grenzen des menschlichen Körpers hinaus zu erweitern und sie in multidimensionale Silhouetten zu verwandeln. Dabei orientiert sie sich in ihrer an der menschlichen Anatomie und den Bewegungsabläufen der Frau, was ihre geradezu übernatürlich wirkenden Kreationen zu begehrten Kleidungsstücken für Trägerinnen wie etwa Lady Gaga, Cate Blanchett, Beyoncé, Jennifer Lopez, Cara Delevingne oder Scarlett Johansson weltweit macht.

Van Herpens Fähigkeit, mit einem breiten Spektrum von Expertinnen und Experten zusammenzuarbeiten – von Biologen und Philosophen bis hin zu Sounddesignern und Kunsthandwerkern aus verschiedenen Kulturen – spiegelt ihre vielfältigen Interessen und ihre unglaubliche Phantasie wider. Diese reichen von der Faszination für ein Insekt bis zur Beschäftigung mit den Weiten des Kosmos, von der Technik hinter einer Maschine bis zu den Visionen eines luziden Traums.

Die Ausstellung im Musée des Arts Décoratifs in Paris zeigt eine Vielzahl von Objekten, darunter zeitgenössische Kunstwerke, Objekte und Einrichtungsgegenstände, die zum Teil eigens für die Ausstellung angefertigt wurden, sowie alte Fossilien und Naturpräparate, die verblüffende Parallelen zu van Herpens eigenen Entwürfen aufweisen. Diese Vielfalt unterstreicht die Weite ihres Inspirationshorizonts und ihre Fähigkeit, scheinbar disparate Elemente in ihren Kreationen zu vereinen.

Eine zentrale Inspirationsquelle für van Herpen ist das Werk von Ernst Haeckel, einem deutschen Biologen, Naturforscher und Künstler des 19. Jahrhunderts, dessen Leben und Werk die Schönheit der Natur in all ihrer Komplexität einfängt. Haeckels Engagement für die Dokumentation der Tier- und Pflanzenwelt von den höchsten Berggipfeln bis zu den tiefsten Meeren und seine bahnbrechenden Zeichnungen und Aquarelle, insbesondere seine Arbeit in „Kunstformen der Natur“ (eine Neuauflage ist im Taschen Verlag erschienen) , haben Generationen von Künstlern und Designern beeinflusst, darunter auch van Herpen.

Während Ernst Haeckels Einfluss auf van Herpen unbestreitbar tief ist, vor allem in der Art und Weise, wie seine detaillierten Darstellungen der Natur in ihren Designs mittels 3D-Drucktechnologie neu interpretiert werden, zeigt die aktuelle Ausstellung eine tiefergehende Perspektive auf van Herpens Arbeit. Ihr Ansatz, Mode als ein Medium zu begreifen, das die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie überschreitet, wird durch ihre Fähigkeit, Verbindungen zwischen scheinbar unvereinbaren Welten herzustellen, noch deutlicher. Neben ihren zahlreichen Inspirationsquellen ist es die Kombination aus dem Einfluss Haeckels, der 3D-Drucktechnologie und van Herpens eigener grenzenloser Neugier und ihrem Engagement für die Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg, die ihre Arbeit so einzigartig macht.

Bei Iris van Herpen wird Mode als mächtiges Werkzeug gesehen, um nicht nur äußerliche, sondern auch innere Veränderungen herbeizuführen. Van Herpen lässt sich von der Natur inspirieren und nutzt Biomimikry, um die dahinterliegenden Kräfte und Strukturen zu erkunden. Sie bezieht Muster und natürliche Abläufe mit ein, um innovative Ausdrucksformen der Weiblichkeit zu schaffen, die nicht nur das Bewusstsein schärfen, sondern auch zu einer nachhaltigeren Modezukunft beitragen.

Jede Kreation von Iris van Herpen wurzelt in ihrer tiefen Auseinandersetzung mit Natur, Kunst, Wissenschaft, Architektur und Tanz. Im Herzen jedes Stückes liegt eine organische Aura, die durch die Beweglichkeit und Beschaffenheit der verwendeten Materialien zum Ausdruck kommt. Sie schöpft ihre Inspiration aus den vielfältigen Aspekten der natürlichen Welt, einschließlich der Verbindung von Sinneseindrücken, den Mustern der Kymmatik, der Nachahmung von biologischen Prozessen und den faszinierenden Vorgängen im Gehirn, wie dem Träumen oder dem geheimnisvollen Leben im Ozean. Somit sind ihre Entwürfe immer im Fluss und fordern die Grenzen der Physik heraus, mit dem Ziel, das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Van Herpens Integration von Kunst, Wissenschaft, Mode, Tanz, Architektur und Technologie verdeutlicht, dass Modekunst das Potential besitzt, transformative persönliche Erfahrungen zu ermöglichen und sie erfahrbar zu machen.

 


Die Ausstellung „Iris van Herpen, Sculpturing the Senses“ ist im Musée des Arts Décoratifs in Paris noch bis zum 28. April 2024 zu sehen.

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