BACK TO THE ROOTS I Die wohl älteste Jazz-Scheune zwischen Tradition und Wohltätigkeit

Von Mascha Schlubach

Eine breite Straße zieht sich durch die Abenddämmerung entlang an kargen Bäumen und verschlafenen Häusern, die dicht nebeneinander liegen und im Dunklen einzig die Silhouetten ihrer Dächer preisgeben – manchmal zeigt ein Licht im Inneren der Häuser plüschige Sofas oder dunkle Holzschränke der Wohnzimmer. Die großen Straßenlaternen scheinen gelblich auf den Asphalt und lassen die Briefkästen, den Bürgersteig und die Vorgärten nur schemenhaft erkennen. Es ist eine amerikanische Nachbarschaft wie sie im Buche steht – idyllisch und vor allem ruhig. Aber der Schein trügt. Nicht ohne Grund legt man knapp sechsundfünfzig Kilometer von New Orleans aus, davon achtunddreißig über eine Brücke quer über den Lake Pontchatrain zurück, um dann endlich am Nordufer des Sees anzukommen und folgendes Ortsschild zu lesen: Welcome to Mandeville. Eine kleine Stadt, dessen Name an verwunschene Märchen denken lässt, und die Teil der St. Tammany Gemeinde in Louisiana ist. Dass sich genau hier, zwischen gemütlichen Häusern und leisen Straßen, eine einzigartige Jazz-Erfahrung machen lassen soll, wirkt fast utopisch. Doch die Straße, die einen zuvor noch durch die beschauliche Nachbarschaft geführt hat, führt einen geradewegs zu einem ganz besonderen Ort.

Zwischen großen, knorrigen Eichen und etwas versetzt neben einer kleinen Baptistenkirche, steht eine alte Holzscheune mit bunten Glühbirnen am Giebel. Vor dem Eingang sind drei Stände aufgebaut – Kasse, Fanartikel und Getränke. Obwohl es draußen nur zwei Grad sind, schmeckt das kalte Bier. Die Stimmung ist ausgelassen und die Leute tummeln sich zwischen den Ständen mit Getränken in den Händen und einem Lächeln im Gesicht. Dort eine Umarmung, hier eine Begrüßung – es ist eine familiäre Stimmung, nachbarschaftlich und freundlich. Eine dreistufige Treppe führt hinauf zum Eingang, in das Herz der Scheune, das sich von seiner authentischsten Seite zeigt – ein großer Raum mit morbidem Charme, schlichten Sitzbänken und einer kleinen Bühne im vorderen Bereich auf der bereits Schlagzeug, Piano und Mikro stehen und auf ihren anstehenden Einsatz warten. Doch der Blick bleibt bei dem Schild oberhalb der Bühne hängen. Auf einem Holzbalken steht in eingeritzten Großbuchstaben: DEW DROP JAZZ & SOCIAL HALL – ERECTED 1895. „Dies ist die älteste, unveränderte Jazz-Halle der Welt“, erzählt mir Dennis Schaibly, stellvertretender Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins „Friends of the Dew Drop“ und der Mann für den Sound, wie er selbst sagt. Gemeinsam mit rund dreißig Kernmitgliedern des Vereins und vielen Freiwilligen sorgt Dennis dafür, dass dieser historische Ort erhalten bleibt und mit regelmäßigen Jazzkonzerten immer wieder zu neuem Leben erweckt wird. Dass sich die Geschichte der „Dew Drop Jazz & Social Hall“ bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, macht diesen Ort zu einem besonderen kulturgeschichtlichen Zeitzeugnis.

Am fünften Mai 1885 gründete eine Gruppe afroamerikanischer Bürger von Mandeville, unter der Leitung von Olivia Eunio, die „Dew Drop Social and Benevolent Association“ und legten zehn Jahre später, 1895, den Grundstein an dem Ort, wo noch immer die Halle steht. Genau das Jahr, welches nach heutigem Stand die Geburtsstunde des New Orleans Jazz oder des traditionellen Jazz der Rampart Street und der Tanzhallen von Storyville in New Orleans markiert. Nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 und dem damit zumindest offiziell in Kraft tretenden Verbot der Sklaverei, kümmerte sich der Verein vor allem um Hilfsbedürftige der afroamerikanischen Gemeinschaft aus der Gegend. Sie verteilten Essen und sammelten durch regelmäßige Musikveranstaltungen Spenden, um so die Bedürfnisse und Kosten der Gemeinde zu decken. „Die „Dew Drop“ war schon vor 123 Jahren ein richtiger Treffpunkt – ein Ort, wo Menschen der Gegend zusammen gekommen sind“, erklärt Dennis und verschwindet kurze Zeit danach wieder hinter dem Mischpult, um den Soundcheck für das Konzert vorzubereiten. Zwar hat Musik in der „Dew Drop“ schon immer eine große Rolle gespielt, aber erst als einige Jazzpioniere aus New Orleans Anfang des 20. Jahrhunderts das Unterhaltungsviertel Milenberg verließen und mit dem Dampfschiff den Lake Pontchatrain überquerten, um ans Nordufer nach Mandeville zu gelangen, entwickelte sich das kleine Dorf zu einem signifikanten Musikzentrum. Diesen Zulauf an Menschen und die damit wachsende Popularität des Ortes nutzte die „Dew Drop Social and Benevolent Association“ aus, indem sie regelmäßig am Samstagabend Musik- und Tanzveranstaltungen organisierte, wo sowohl Anfänger als auch Profis die Bühne betraten und gemeinsam musizierten – der Jazz in seiner frühesten Form hatte ein neues Zuhause gefunden. Die Veranstaltungen erfreuten sich großer Beliebtheit und der Verein bemühte sich, neben den sozialen Tätigkeiten, zunehmend um die Realisierung und Organisation der Konzerte und legte damit einen Meilenstein innerhalb der Jazzgeschichte. Daran anknüpfend entwickelten sich die Folgejahre, insbesondere die 20er und 30er Jahre zu einer Blütezeit – nicht nur für die Dew-Drop-Halle, sondern für die gesamte Jazz-Community. Die kleine Bühne in Mandeville beherbergte nun mehr wahre Legenden des Jazz wie beispielsweise Buddy Bolden, Kid Ory und Andy Anderson. „Sogar Louis Armstrong soll mehrmals in der Dew Drop gespielt haben, noch bevor er überhaupt berühmt wurde“, erzählt Dennis Schaibly mit einem Lächeln im Gesicht. Aber die Hochphase war nicht von langer Dauer, als sich in den 40er Jahren einige Unternehmen mit besonderen Versicherungsangeboten bildeten und so das ehrenamtliche Engagement des Vereins immer mehr in den Hintergrund geriet. Als dann zusätzlich einige der ersten Gründungsmitglieder der „Dew Drop Social and Benevolent Association“ verstarben, verlor auch die kleine Scheune aus Holz ihre besondere Energie und verwahrloste. Auch die Gründung und Organisation eines neuen Vereins, zusammen mit einer neuen Halle ganz in der Nähe, ließ die „Dew Drop“ immer mehr in Vergessenheit geraten. Erst als Jaqueline Vidrine, eine Geschäftsfrau aus Mandeville, 1993 das Gebäude erwarb und es im Jahr 2000 der Stadt spendete, erlebte die kleine Halle ihre Renaissance. Noch im selben Jahr organisierten der Naturschutzpark, die New Orleans Jazz Kommission und die George-Buck-Stiftung einen Abend, der dem traditionellen Jazz gewidmet war und zum ersten Mal nach sechzig Jahren standen wieder Musiker auf der kleinen Bühne im Herzen von Mandeville. Der berühmte Klarinettist Dr. Michael White eröffnete gemeinsam mit einer großen Jazzband den Abend und ließ den Ort zu neuem Leben erwecken. Der Neuanfang der „Dew Drop“ war beschlossen und wurde im August 2006 besiegelt, als zwei Mitglieder des Stadtrates von Mandeville, Zella Walker und Trilby Lenfant, den gemeinnützigen Verein „Friends of the Dew Drop“ gründeten und der Jazz als verlorener Sohn an den Ort zurückkehrte, wo er einst so glorreich zelebriert wurde.

Zwischen alten Bäumen: Die „Dew Drop“ von der Lamarque Street aus gesehen © AbbyPhoto, LLC

Wie lebendig die alte Scheune seitdem wieder ist, spüre ich, als sich der Raum langsam mit Leuten füllt und die Stimme von der New Orleans Jazzlegende Germaine Bazzle durch die Reihen schwingt. Gemeinsam mit Schlagzeug und Piano, erinnert der markante Scatgesang an den Stil von Louis Armstrong und man ist verzaubert von der einzigartigen Atmosphäre, der gemeinsamen Liebe zur Musik und der bewegende Geschichte hinter der hölzernen Fassade. „Wenn die Musiker auf der Bühne stehen, dann spüren sie dieses spezielle Gefühl, diesen traditionellen Geist, der von den Wänden der Halle ausgeht und dieses Gefühl kommt dann auch beim Publikum an. Das ist wie ein Rausch“, erzählt Dennis als wir in der Pause eine Runde um das alte Gebäude drehen. „Es gibt weder eine Heizung noch eine Klimaanlage in der Halle. Man kommt also öfters mal ins Frieren oder ins Schwitzen“, lacht Dennis und zieht sich dabei ein paar Handschuhe über. Es ist ein eisig kalter Dezemberabend und ich bin froh als wir uns dem kleinen Gemeindehaus hinter der Halle nähern, wo man sich in der Pause mit typischem Südstaatenessen stärken kann. Die freiwilligen Helfer der Kirche verkaufen dort selbstgemachtes Cornbread mit roten Bohnen und Reis – ein traditionelles Essen in New Orleans und das Richtige zum Aufwärmen. „Es ist wirklich großes Glück, dass so viele Freiwillige das Projekt „Dew Drop“ unterstützen. Hier wäscht jede Hand die andere. In der Pause beispielsweise hilft die Kirche bei der Beköstigung und kümmert sich um die Vorbereitungen in der Halle vor den Konzerten“, erzählt Dennis während sich der kleine Raum mit immer mehr Gästen füllt. Das Herz der Jazz-Halle bleibt aber der gemeinnützige Verein „Friends of the Dew Drop“, der nicht nur alles zusammenhält und koordiniert, sondern auch für die Organisation der Konzerte und das Line-Up verantwortlich ist. So trifft sich zum Beispiel regelmäßig ein dafür zuständiges Komitee, um die Liveacts für die anstehende Saison zu planen. Dabei stellt jeder seine persönliche Liste an Vorschlägen vor, aus denen dann eine gemeinsame Konzertreihe entwickelt wird. Seit der Verein 2006 die Obhut der „Dew Drop Jazz & Social Hall“ übernommen hat und regelmäßige Veranstaltungen stattfinden, steigt die Popularität des Ortes zunehmend. „Es ist verrückt zu beobachten, wie sehr das Interesse an der „Dew Drop“ in den letzten Jahren gestiegen ist. Musiker und Bands, die schon immer hier gespielt haben, locken mittlerweile so viele Leute, dass der Platz oft nicht reicht. Wir haben hundert Sitzplätze, aber meistens kommen doppelt so viele Besucher.“ Als die Pause vorbei ist, muss sich Dennis beeilen, um rechtzeitig wieder hinter dem Mischpult zu stehen. Als Toningenieur ist er unabdingbar für jedes Konzert. Und auch ich laufe geradewegs zurück zur Halle, um noch einen der begehrten Sitzplätze zu ergattern. Denn auch an diesem Abend drängen sich die Leute durch die alte Holztür in die bunt erleuchtete Scheune, um den zweiten Teil des Konzerts mitzuerleben. Die Stimmung ist wie zu Anfang ausgelassen. Es wird gepfiffen, geklatscht und getanzt, bis Germaine Bazzle um 22 Uhr ihren letzten Song anstimmt und mit einem begeisterten Applaus von der Bühne verabschiedet wird. Draußen tummeln sich wieder Freunde, Vereinsmitglieder, Nachbarn und Besucher aus der ganzen Welt für ein letztes Getränk und ich bin froh an dem Abend ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein, die eine große Passion gemein hat: die Musik. Es ist nicht nur die alte, hölzerne Halle mit ihrer langen Geschichte, die magisch ist, sondern auch die Menschen um sie herum, die diesen Ort zu einem Raum voller Begegnungen, Leben und Freude werden lassen.

Ich bedanke mich bei Dennis für den schönen Abend und seine Zeit und bevor ich wieder ins Auto steige, fällt mir ein, dass ich ihn noch gar nicht gefragt habe, was die „Dew Drop“ ganz persönlich für ihn bedeutet. Da lächelt er und deutet mit seiner rechten Hand in den klaren Nachthimmel: „Ich weiß nicht, wie oft ich den Sternen schon gedankt habe, dass ich vor sechs Jahren gefragt wurde, ob ich dem Verein beitreten will. Teil dieser Gemeinschaft zu sein, die vielen Konzerte zu begleiten und die Halle lebendig zu halten, macht mich glücklich. Ganz ehrlich, für mich gibt es keinen Ort, wo ich lieber wäre.“ Wieder führt eine breite Straße durch die ruhige Nachbarschaft mit den verschlafenen Häusern, vorbei an gepflegten Vorgärten und gelben Lichtern, aber diesmal mit einem Gefühl von Glück. Ein Gefühl, das immer dann aufkommt, wenn man einen ganz besonderen Ort gefunden hat.

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