Von Peter Lodermeyer
Eine Erinnerung an mein Studium der Kunstgeschichte vor gut 25 Jahren: Im Rahmen eines Proseminars zum Thema Druckgraphik hielt ein Mitstudent ein Referat über die Radierungen von Giovanni Battista Piranesi. Seinen etwas schwärmerischen Vortrag ließ er in dem begeisterten Ausruf gipfeln, die römischen Veduten dieses Meisters aus dem 18. Jahrhundert böten dem Betrachter „einen wahren Kunstgenuss“. Die Reaktion des Auditoriums war betretenes Schweigen, vereinzelt hämisches Grinsen. Wie konnte ein angehender Kunstwissenschaftler ein so verpöntes Wort in den Mund nehmen? Wo blieb die professionelle Distanz? Und in der Tat, nicht nur im Fach Kunstgeschichte sondern auch unter zeitgenössischen Künstlern ist es weitgehend tabu, das Wort Kunstgenuss auszusprechen. Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur einer meiner zahlreichen Künstlerfreunde jemals davon gesprochen hätte, man könne oder solle seine Werke „genießen“.
Abseits von Universität und Künstleratelier sieht die Sache jedoch ganz anders aus. Sofern man sich auf die kanonisierte Kunst der Vergangenheit bezieht – und insbesondere, wo der Kunsttourismus angekurbelt werden soll, z. B. bei Bildungsreisen –, ist der Hinweis auf die „kulinarische“ Qualität der Kunst geradezu unverzichtbar: „Kunstgenuss im Prado!“, „Genießen Sie die Meisterwerke der Gotik!“ Und erst recht im Bereich der klassischen Musik: Die Salzburger Festspiele werben auf ihrer Website ganz ungeniert damit, bei ihnen könne der Besucher „Kunstgenuss mit Urlaub verbinden“. Obwohl die zeitgenössische Kunst ja längst ihre kommerzielle, marktkompatible Seite offenbart hat und Kunstmessen wie die Art Basel oder Leistungsschauen wie Documenta und Biennale Venedig zu Events geworden sind, die ein Massenpublikum anziehen, tun sich zeitgenössische Künstler noch immer schwer mit der Vorstellung, dass ihre Arbeit etwas Genießbares sei.
Die Ursache dafür liegt sicherlich darin, dass der Wirkstoff, der aus Kunst ein Genussmittel macht, die Schönheit nämlich, in der Moderne zunehmend unter Verdacht geriet. Zuvor hatte Schönheit über Jahrhunderte hinweg als der zentrale Wert jeder Kunsttheorie gegolten. Selbst die Systemtheorie eines Niklas Luhmann behauptete noch in den 1980er-Jahren, dass die Kommunikation innerhalb des Kunstsystems durch den binären Code „schön/hässlich“ gesteuert werde. Und dies, obwohl bereits 1968 der berühmte dritte Band der Forschungsgruppe „Text und Hermeneutik“ mit dem sprechenden Titel „Die nicht mehr schönen Künste“ erschienen war. „Nicht mehr schön“, weil die Künstler Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts – parallel zu den gravierenden politischen, sozialen, ökonomischen und wissenschaftlichen Umwälzungen der Epoche – damit begonnen hatten, sich der akademischen Festlegung von Schönheitsnormen zu widersetzen und durch gezielte Regelverstöße zu überwinden. 1926 versah Picasso eines seiner Materialbilder mit Nägeln, die von hinten durch die Leinwand stachen und dem Betrachter aggressiv entgegenstarrten. Die Botschaft war klar: Das Publikum sollte in seiner genießerischen Haltung aufgestört und zu einem neuen Begriff von Kunst geführt werden. Wenn Alberto Burri später Malerei auf löchrigem Sackleinen präsentierte, Lucio Fontana die Leinwände aufschlitzte und Otto Piene sie gleich mit dem Flammenwerfer traktierte, war dies eine offensichtliche Attacke auf biedere bürgerliche Schönheitsvorstellungen. Logischerweise bestand ein beliebtes Ritual der Fluxus-Bewegung der 60er-Jahre darin, vor Publikum Klaviere zu zertrümmern, das Symbol bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses schlechthin. Die Radikalität der Konzeptkunst lag darin, den sinnlichen Gehalt ihrer Werke auf ein Minimum zu reduzieren und sich intellektuellen Fragen zu widmen, zum Beispiel der nach den institutionellen Bedingungen, unter denen ein beliebiges Objekt zu Kunst wird. Kunstwerke zielten nicht mehr auf sinnlichen Genuss, sondern auf kritisches Bewusstsein. „Sehgewohnheiten aufsprengen“, „die eingeübte Wahrnehmung kritisch hinterfragen“ und wie die Parolen alle hießen.
Doch schon bald wurde deutlich: Revolutionen lassen sich nicht auf Dauer stellen, Provokationen ebenso wenig. Außerdem zeigte sich eine interessante Dialektik: Die Praktiken, die zunächst darauf abzielten, den Genuss der Kunst zu verhindern, wurden irgendwann selbst genießbar. Die Grenzen der Genussfähigkeit erwiesen sich als ebenso dehnbar wie die Definition dessen, was als Kunst gilt. Wer sich heute der Farbintensität eines Gemäldes von Barnett Newman aussetzt, denkt wohl kaum an Erhabenheit, an die Tragik und den Schrecken des Seins, wie der Maler es tat, sondern genießt ein faszinierendes Wahrnehmungserlebnis. Wenn man die Lektionen der Moderne und der Nachkriegsavantgarde gelernt hat, erschließen sich neue Genussquellen; so wird selbst der Reizentzug der asketischsten Konzeptkunst zu einem Genuss, bei dem der Intellekt einspringt, wo es mit der Sinnlichkeit hapert. Man kann durchaus politisch hellwach und intelligent genießen.
In der sogenannten Postmoderne, die spätestens in den 1980er-Jahren ausgerufen wurde, begann sich das Verhältnis zwischen Kunst und Schönheit wieder zu entspannen. Das Bekenntnis zum Genuss folgt zögerlich nach. Am ehesten wird es erkennbar, wo Künstler das Genießen der Kunst mit der Kunst des Genießens kurzschließen und das Kulinarische ausdrücklich in ihre Arbeit einbeziehen. So wurde der thailändische Künstler Rirkrit Tiravanija dadurch bekannt, dass er in seinen Ausstellungen keine Werke zeigte, sondern in seinem „mobile home“ thailändische Gerichte zubereitete, die er den Galerie- bzw. Museumsbesuchern servierte, um mit ihnen beim gemeinsamen Essen ins Gespräch zu kommen. Ein weiteres, ästhetisch ganz anders geartetes Beispiel war die Installation „Schattenfuge“, welche der Kölner Künstler Simon Schubert im Jahr 2012 in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach zeigte. Die Besucher mussten erst einen engen schwarzen Durchgang passieren, bevor sie einen gleißend hellen Raum betraten, der sich als die aparte Mischung aus minimalistischem White Cube und barocker Pracht darstellte. An den Wänden zwischen großformatigen Flachreliefs aus virtuos gefaltetem Papier hingen Leuchter in Form kindlicher Unterarme. In der Mitte des Raumes erstreckte sich ein langer Esstisch, der für 18 Personen festlich eingedeckt war. Der gesamte Raum war in Weiß gehalten, wozu schwarze Teile der Tischdekoration einen kräftigen, leicht morbiden Kontrast setzten. In den mit schwarzem Sud gefüllten Tellern hockten Kunst-Kröten, Aale schlängelten sich zwischen üppigen schwarzen Traubengebinden, Schildkrötenpanzer lagen auf der Tischdecke. Das Ganze wirkte wie das Vorspiel zu kultiviert-dekadenten Tafelfreuden. Und in der Tat fand im Raum der „Schattenfuge“ ein festliches 7-Gänge-Diner mit weißen und schwarzen Speisen statt, die von der Schauspielerin und Spitzenköchin Vanessa Krycève alias Mademoiselle K nach Entwürfen des Künstlers zubereitet wurden. Serviert wurde unter anderem ein Tartar aus Jakobsmuscheln, dem beim Anschneiden eine Trockeneiswolke entwich. Wie man hört, war das Essen exzellent. Mein Studienkollege von einst hätte wohl gesagt: ein wahrer Kunstgenuss!
www.simonschubert.de
Titelbild: © Foto Michael Wittassek