Autorin: Xiao Xiao
Haiying Xu malt am liebsten großformatige, farbenfrohe Bilder. Seit mehr als 20 Jahren lebt und arbeitet die chinesische Künstlerin in Deutschland. Geboren wurde sie Mitte der 70er Jahre in der chinesischen Provinz Jiang Xi. Die Provinz Jiang Xi zeichnet sich durch eine traumhafte Naturlandschaft aus. Die langen Flüsse und hohen Berge, die dort seit Jahrtausenden entweder weite Reisfelder tragen oder daoistisch-buddhistische spirituelle Orte sind, prägen die Kindheitserinnerungen der Künstlerin. Als Jugendliche kehrte sie mit ihrer vierköpfigen Familie in die chinesische Metropole Shanghai zurück, aus der ihr Vater stammte. Ihre Erinnerungen an die ersten Lebensjahre in China sind geprägt vom ständigen Umzug und dem Kontrast zwischen ländlichem und städtischem Leben. Seit Mitte der 70er Jahre erlebte ihr Heimatland China dank einer wirtschaftsorientierten politischen Führung einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Zahl der Kooperationen mit ausländischen Unternehmen nahm seitdem stetig zu. Der wirtschaftliche Austausch bildete den Nährboden für kulturelle Begegnungen zwischen Ost und West. Populäre Kultur aus dem Westen strömte in das Land, das in dieser Zeit nach einer neuen Orientierung für seine Modernisierungskultur suchte. Westliche und östliche Kulturen prallten aufeinander, was in der Metropole Shanghai besonders intensiv zu erleben war. Diese Entwicklung hat als Ereignis des Zeitgeistes das freie künstlerische Schaffen von Haiying Xu bis heute begleitet. Als Jugendliche begeisterte sich Xu für westliche Kulturen, die sich von der heimatlichen Kultur unterschieden, gleichzeitig liebte sie die ästhetischen Elemente traditioneller chinesischer Kulturen, insbesondere die aufwendigen Kostüme und Masken der Peking-Oper, die seit geraumer Zeit als eine der vom Aussterben bedrohten traditionellen Kulturen Chinas gilt. Durch die detailgetreue Wiedergabe der Operninszenierung in der Technik der Ölmalerei drückt die Künstlerin ihr Bedauern darüber aus, dass diese sorgfältig entwickelte Kulturtradition in der heutigen chinesischen Kulturszene verloren geht.
Die malerische Praxis begleitete sie von Anfang an, als sie damit experimentierte, verschiedene ästhetische Elemente nebeneinander und harmonisch miteinander zu verbinden. Sie illustrierte Texte in Büchern und schmückte Briefe mit grafischen Elementen. Ihr starker Wunsch, Dinge schön zu gestalten und abstrakte Geschichten mit visuellen Elementen metaphorisch zu erzählen, führte Haiying Xu von 1993 bis 1996 zu einem Designstudium an der Universität Hainan. In den folgenden drei Jahren arbeitete die Künstlerin als diplomierte Designerin in Shanghai. Von 2003 bis 2009 studierte sie Malerei in der Meisterklasse von Prof. Anke Doberauer an der Akademie der Bildenden Künste in München. Als Absolventin lebt Haiying Xu seit 2008 in München und widmet sich bis heute ihrer Malerei.
Die junge chinesische Künstlerin, die zwischen China und Deutschland lebt, reagiert sensibel auf die zunehmend globalisierte Kulturwelt. Ausdrucksmittel der Kunst von Haiying Xu ist nach wie vor die Ölmalerei. Sie liebt es, ihre künstlerischen Ideen in großformatigen Ölbildern umzusetzen. In dieser großzügigen Bildwelt lässt sie ihren sensiblen Empfindungen freien Lauf, in denen sie ihre persönlichen Konflikte zwischen dem wahren Ich und den ihr gegebenen Umständen erfahrbar macht. Ihre Bildsprache wirkt ruhig, in sich gekehrt, entspannt und manchmal zurückhaltend; die Erzählweise der Bilder ist surreal, traumhaft und rätselhaft. Gerade in dieser Art der malerischen Darstellung ihrer persönlichen Innenwelt liegt das Erhabene und Mystische.
Die Malerei ist das Medium, mit dem sie in diesem medialen Handlungsprozess versucht, sich selbst in einer sich verändernden Welt zu verstehen. Haiying Xu arrangiert die einzelnen Szenen aus ihrem Zeichenblock auf der großen Leinwand in einer Weise, die an Comics erinnert. Als Kind habe sie gerne Comics gelesen, erzählt sie im Gespräch, und die erzählerische Kraft, die in diesem comicartigen Format steckt, habe sie fasziniert. So vermischt die Künstlerin ihre Erinnerungen und Faszinationen aus der Vergangenheit, ihre Sinneseindrücke und ihre gegenwärtige Verarbeitung dieser Sinneseindrücke. So konstruiert sie in ihrer Malerei eine interessante Zeit-Raum-Konstellation, die sich dem Betrachter in mehrdimensionalen Perspektiven gleichzeitig erschließt. Vergänglichkeit ist in ihren Bildern präsent. Die Frage, in welchem Zeit-Raum hier eine Geschichte inszeniert wird, scheint unnötig und überflüssig. Der Verzicht auf die Inszenierungsstruktur traditioneller Erzählkunst bietet den Boden, von dem aus ihre Malerei rätselhaft geheimnisvoll ausstrahlt. In der undramatischen Dramaturgie verbirgt sich die tief in der Psyche der Künstlerin verankerte Ratlosigkeit, die sie in ihren konfliktreichen Lebenswelten oft selbst erfährt. In der melancholischen Grundstimmung, die in ihrer Kunstwelt spürbar ist, finde ich eine Ähnlichkeit mit der malerischen Aura eines Casper David Friedrich. Haiying Xu legt ihren künstlerischen Fokus auf die Darstellbarkeit von Stimmungen, in denen sich die emotionale Ergriffenheit eines Subjekts mit der menschenleeren Atmosphäre der Naturlandschaft verbindet und vereint.
Alle Abbildungen stammen aus der Serie „Es war einmal“ von Haiying Xu.
Titelbild: Es war einmal 08, 100 x 80 cm, 2015.
Rechts: Es war einmal 15, 130 x 190 cm 2023.
Links: Es war einmal 16, 130 x 190 cm, 2023.