JAHRHUNDERT DES KINDES | Design für junge Bedürfnisse

Von Mascha Schlubach

Was ist aus dem „Jahrhundert des Kindes“ geworden, das die Autorin Ellen Key (1849-1926) im Jahre 1902 in ihrem gleichnamigen Buch ausrief? Ihr Werk ist immer noch hochaktuell und bietet für aktuelle Debatten rund um die Kindererziehung eine wichtige Grundlage. Wer es liest, erhält Denkanstöße hinsichtlich der Bedürfnisse von Kindern. Die schwedische Reformpädagogin und Schriftstellerin Ellen Key war zweifelsohne visionär und legte mit ihrer Studie ein fundamentales Werk vor, das dem Kind eine ganz neue Stellung innerhalb der Gesellschaft vermachte und aus pädagogischer Sicht auch heute noch nahezu revolutionär ist.

Es ging nicht mehr darum, Kinder als unfertige Erwachsene anzusehen und sie als solche zu begreifen. Vielmehr verstand Key das Kind als ein eigenständiges Individuum mit speziellen Wünschen und ernstzunehmenden Bedürfnissen, die es zu respektieren und anzuerkennen gilt. Damit schaffte sie ein neues Grundverständnis und eine Freiheit des Kindes, das sich dadurch dem viel zu eng geschnürten Mieder der Erwachsenen entziehen konnte. Nach über 100 Jahren fragen wir uns mehr denn je wie Kinder heute leben sollen und wie sie leben wollen. Was umgibt sie? Wie sehen ihre Lebenswelten aus, und was sagt diese Umgebung über die Gesellschaft im Ganzen aus? Anders gefragt: Welche Rolle spielen Kinder in einer Konsumgesellschaft? Um diese und andere Fragen zu beantworten, kann ein Blick zurück in die Geschichte des nordischen Designs helfen: Gerade skandinavische Entwürfe für Möbel, Spielsachen, Bücher, Hygieneprodukte und Kleidung, aber auch Schul- und Spielplatzarchitektur, Reklame, Werbekampagnen und Kunstprojekte weisen einen interessanten Weg auf. Auf dieser Basis lassen sich auch Objekte anderer Designer besser verstehen, die den neu gewonnene Anspruch des Kindes widerspiegeln.

Little Sun by Olafur Eliasson: littlesun.com, Foto: © Franziska-Russo

Ein Beispiel dafür liefert der im Jahr 1944 entworfene „Peter‘s chair“ von Hans J. Wegner. Aus der Not heraus geboren, weil sich kein passendes Geschenk für den Sohn eines Freundes finden und problemlos per Post nach Kopenhagen schicken ließ, entwickelte Wegner kurzerhand ein eigenes Produkt. Die Idee eines Stuhls war geboren, der sich auseinanderbauen und ebenso simpel wieder zusammensetzen lässt. Wegner hatte den Wunsch, dass Peter, der Sohn des Freundes, ganz alleine in der Lage war, seinen Stuhl funktionstüchtig zu machen – ohne Nägel, ohne Hammer, ohne Kleber. Damit schuf er ein auf Autonomie beruhendes Möbelstück, was das Kind in seiner Selbstständigkeit fördert und pädagogisch fordert, ohne dabei auf das Eingreifen eines Erwachsenen angewiesen zu sein. Auch das 2012 ins Leben gerufene Projekt „Little Sun“ von Olafur Eliasson und Frederik Ottesen zielt auf Unabhängigkeit des Kindes ab. Das Konzept ist einfach; am Anfang steht, wie so oft, eine Frage: Wie schafft man es, Kindern auf der ganzen Welt den Zugang zu Licht zu ermöglichen? Strom ist in vielen Ländern dieser Erde ein Gut, auf das nur wenige zugreifen können, aber es gibt eine Kraft, die jeden erreicht – Sonnenkraft. Die Solarenergie ist längst kein unbeschriebenes Blatt mehr und stellt in sonnenreichen Gegenden wie Afrika eine große Chance dar. Diese Chance nutzten die Sonnen von Eliasson und Ottesen für sich, indem sie über eine Solarzelle auf der Rückseite Sonnenstrahlen speichern und diese in Licht umwandeln. Bis zu 50 Stunden kann eine aufgeladene Sonne halten und Kindern auch noch in der Dunkelheit das Lesen ermöglichen.

Neben dem Design von Alltagsgegenständen und Möbeln für Kinder sind zwei weitere Aspekte interessant: Die Rolle des Vaters von Heute und die Architektur für Kinder. Sujets, die einem im Vergleich zu anderen Themen weniger offensiv im Alltag begegnen und gerade deshalb eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Dass unsere Freunde aus dem Norden im Bezug auf Elternzeit und Elterngeld dabei wieder einmal die Nase vorn haben, ist keine Überraschung und auch die neuen Zukunftsmodelle von finnischen Schulen sind, im Hinblick auf die Rolle des Lehrers, der digitalen Medien und der Architektur mehr als visionär. Doch auch in Deutschland will man neue Wege gehen. So zeugt die Einrichtung eines Väterzentrums im Prenzlauer Berg in Berlin von dem Wunsch und vor allem von der Nachfrage, Männer in ihrer neuen Rolle als Papa zu unterstützen. Und auch das Thema Architektur für Kinder erhält durch die Berliner Firma baukind ganz neue Dimensionen. Das Architekturbüro konzentriert sich vornehmlich auf Kitabau und dessen Gestaltung und verleiht vorerst tristen Gebäuden einen lebendigen Anstrich, der optimal auf die Bedürfnisse von Kindern abgepasst ist – Fußleisten werden zu Murmelbahnen, Flure zu Ralley-Stationen und Garderoben zu Kletterparadiesen. Es gehe darum die so genannten „Unräume“ wie Flur und Garderobe sinnvoll zu nutzen, sie spielbar zu machen und Bewegung zu fördern, erzählt eine der Gründerinnen Nathalie Dziobek-Bepler. Wie schön, dass es vermehrt Projekte gibt, bei denen das Kind im Mittelpunkt steht und wir uns darauf besinnen können, dass Kindheit etwas Wichtiges ist, etwas, das uns alle eint und das den Anspruch erheben sollte, so wertvoll wie möglich gestaltet und gelebt zu werden. „Das Jahrhundert des Kindes“ darf kein Buchtitel bleiben, sondern muss Namensgeber für die Zukunft werden.

Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, Beltz Verlag, 266 Seiten, 12,90 Euro | beltz.de

„Dieses Buch“, so die Rezension von Rainer Maria Rilke aus dem Jahre 1902, „ist ein Ereignis, ein Dokument, über das man nicht wird hinweggehen können. Man wird im Verlaufe dieses begonnenen Jahrhunderts immer wieder darauf zurückkommen, man wird es zitieren und widerlegen, sich darauf stützen und sich dagegen wehren, aber man wird auf alle Fälle damit rechnen müssen.“

Titelbild: © Monkey by Kay Bojesen: www.kaybojesen-denmark.com