OPHELIA | Die Verletzlichkeit der Welt

Von Mascha Schlubach

Seit Dezember 2017 ist die 35-jährige Künstlerin Nadja Verena Marcin mit ihrer Live- und Videoperformance OPHELIA unterwegs und feierte am 6. September 2018 in der Kölner Moltkerei Werkstatt e.V. ihre Europapremiere. Jetzt ist OPHELIA in der Stadtgalerie in Saarbrücken am 27. September live zu sehen und wird mit einer Soloausstellung mit Video- und Fotoarbeiten bis zum 16. Februar 2020 gezeigt. Mit der vielschichtigen Medienperformance transportiert die in New York und NRW arbeitende Künstlerin Shakespeares Ophelia in das 21. Jahrhundert und konfrontiert sie und das Publikum mit den zentralen Herausforderungen des anthropozänen Zeitalters. Eine leise, fast melancholisch anmutende Performance mit einer deutlich hörbaren Botschaft – Nadja Verena Marcin erschafft mit ihrer interdisziplinären Arbeit ein Gewebe aus Vergangenheit und Zukunft und stellt die unbequemen Fragen unserer Zeit. Vor der Premiere traf barton die Künstlerin in Köln.

Liebe Nadja, wie schön, dich so kurz vor deiner Europapremiere treffen zu können. Du warst mit OPHELIA bereits in Miami, New York und San Francisco und hast dort große Erfolge verbuchen können. OPHELIA ist eine Medienperformance bei der du mit Atemmaske und weißem Kleid als Shakespeares Ophelia anmutend in einen mit Wasser gefüllten Glassarkophag steigst und dort Verse aus dem Gedicht The Werld von Daniil Kharms zitierst, die der Zuschauer nur als verzerrte, undeutliche Laute wahrnehmen kann. Die Performance wird anschließend zur Videoskulptur und im Loop abgespielt. Was hat dich zu diesem Projekt bewogen? Gab es eine Art Initialzündung?

Vor ein paar Jahren war ich während eines Zwischenstopps in London in der TATE Britain. Ein Spaziergang durch die Meisterwerke, ich erwarte nichts, aber da war ein Bild, das wie ein Gespenst aus der Vergangenheit zu mir sprach: Ophelia von Millais (1851-52). Es erzählt von Trauma, Stummschaltung, Gefühlen, Instinkten, Natur, Weiblichkeit und Verlust. Besonders die psychische Innerlichkeit des Bildes faszinierte mich. Für mich fühlte es sich an, als sei Ophelia die Pietà des 19. Jahrhunderts. Der Typus der Ophelia galt lange als Blaupause für weibliche Hysterie und war ein verbreitetes Krankheitsbild.

Eine schöne Anekdote zum Bild von Millais, das ich als Hintergrund in Form einer Wandtapete benutze. Prof. Kimberly Rhodes, die Ophelia Spezialistin in Amerika erzählte mir, dass Millais das Flussbett des Gemäldes im Freien ohne die Frau gemalt hätte und erst später die Frau in seinem Atelier hinzufügte. Ich habe Ophelia auch im Hintergrundbild ausgespart – um mich als Ophelia des 21. Jahrhunderts in Szene setzen zu können.

Für die Ausstellung in der Moltkerei wurde das Projekt OPHELIA mit einem bis dato ungesehenen Zusatz versehen und als OPHELIA‘S CEREMONY präsentiert. Ergänzend zu dem gläsernen Sarkophag wurden zusätzliche Monitore aufgestellt, die Memes zum Topoi der Ophelia abspielen. Die Monitore erscheinen, dank ihrer Anordnung, plötzlich als die eigentlichen Zuschauer. Sind wir also ersetzt?

Einen Zuschauer kann niemand ersetzen, auch nicht die Künstlerin. Mir ist es wichtig die anderen Darstellungen von Ophelia in OPHELIA’S CEREMONY gemeinsam in einen Raum zu bringen, weil sie viel über das Menschsein verraten können. Besonders in Zeiten von Social Media zeigt es unseren Hang zum Dramatischen, die Liebe zur Inszenierung, die das Selbst portraitiert, sodass in jedem von uns eine Ophelia steckt. Wenn man diese Bilder alle auf einmal sieht, gerät man schnell ins Schmunzeln.

Bei meiner Performance gibt es eine Differenz zur Figur der Ophelia, das bin einmal ich, dann ist es auch Du und währenddessen wird sie zum the other. In jeder Performance werde ich zum Medium, was sich eindeutig vom Akt des Schauspiels unterscheidet. Das Publikum, deren Emotionen, der Moment, die Zeitspanne, die Architektur – alles wird Teil davon.

Als Performance- und Videokünstlerin ist das Publikum ein zentraler Bestandteil deiner Arbeit. Und auch bei OPHELIA werden wir mal zum Voyeur, mal zum Angeklagten, mal zum Verbündeten. Wie wichtig ist dir die Interaktion? Ist die Unmittelbarkeit eine Chance den Zuschauer sofort zu erreichen oder schafft gerade diese Nahbarkeit eine Distanz?

Meine Performance folgt keinem Schema F zum Konsumierbarmachen. Es gibt keine Inszenierungskritiken oder Kameraproben. Ich denke darüber nach, was ich sage, was ich tue, ob dies für mich persönlich eine Notwendigkeit hat. Mir ist es wichtig die Aktionen gemeinsam mit dem Publikum zu erfahren und zu teilen. Meine Performance basiert auf diesem Vertrauen. Der Zuschauer darf bei mir nach Lust kommen und gehen, aber eigentlich bleiben immer alle vor Ort und meistens sogar noch eine ganze Weile länger.

Wenn man sich Arbeiten von dir wie „How to Undress in Front of Your Husband“ von 2016 anschaut, fällt auf, dass du dich intensiv mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau und der damit verbundenen konventionalisierten Schönheitsdoktrin beschäftigst. In OPHELIA schlüpfst du in die Rolle einer Frau, die in der Kunst zumeist als schöne Sterbende mit Blumenkranz und wallendem Kleid dargestellt wurde. Klingt erstmal nicht nach einer feministischen Galionsfigur. Wieso hast du dich trotzdem für die Figur der Ophelia als Sprachrohr deiner Performance entschieden? Und was für eine Frau ist die Ophelia des 21. Jahrhunderts?

In meiner Arbeit geht es allgemein immer darum, menschliches Verhalten zu examinieren und auf eine neue, aber vertraute Art und Weise zu exerzieren, die psychologische Mechanismen durch Subversion und emotionale Konfrontation auf den Kopf stellt und offenbart. Versteckte Wahrheiten über Gender, Geschichte, Moral, Politik sowie patriarchale Machstrukturen treten zum Vorschein, werden zerlegt und untergraben. In „How to Undress in Front of Your Husband“ geht es um Gender und Machtdifferenzen, aber auch um psychologische Strukturen von Kontrolle, Verhalten und Überwachung, die sich im Zwischenmenschlichen verstecken. Wir schaffen Mechanismen, um den anderen zu schwächen und in Schach zu halten.

OPHELIA (Minnesota Street Project), San Francisco, 2018; Courtesy of the artist Nadja Verena Marcin & 532 Gallery Thomas Jaeckel, New York & AKArt, San Francisco; Photography by Thomas Sparks

OPHELIA verkörpert das menschliche Gefangensein in der Subjektivität, die Fragilität und Isoliertheit. Die Bedrohung im 21. Jahrhundert liegt u.a. in der Zerstörung der Natur – und mit welchen katastrophalen Antworten wir zu kämpfen haben werden. Die Verletzlichkeit des isolierten Individuums innerhalb der Gesellschaft wird thematisiert genauso wie die Verletzlichkeit des gesellschaftspolitischen Überbaus, der durch Umweltverschmutzung und Zerstörung von einer kraftvollen Antwort der Natur bedroht ist. OPHELIA ist für mich Inbegriff dieses Gegensatzes.

Während du unter Wasser bist, zitierst du das Gedicht The Werld von Daniil Kharms aus dem Jahr 1939. Besonders eindrücklich erscheinen ersten beiden Sätze: „I told myself that I see the world. But the whole world was not accessible to my gaze, and I only saw parts og the world.“ Ist das auch die Art, wie du die Welt siehst, als Zerfaserung? Zerteilt und dem Individuum nicht (mehr) zugänglich? Oder gab es andere Beweggründe, sich für dieses Gedicht zu entscheiden?

Die Welt existiert für mich wie auch bei Kharms jenseits des subjektiven Blickwinkels der einzelnen Person. Der Mensch hat diese tolle und leider auch gefährliche Gabe nur das zu sehen, was ihn interessiert. Demnach werden wir leider erst die Kohlenstoffemissionen einschränken, wenn unser eigenes Land schon halb unter Wasser steht und der letzte Eisberg vorbeischwimmt. Für mich ist es von Interesse diesen angeborenen Selbstbezug des Menschen zu demonstrieren. Leider können wir mittlerweile die Ozonschicht zerstören, das Klima wandeln, Arten auslöschen, Meere verpesten und Naturkatastrophen auslösen. Das scheinbar unschuldige, unabhängige individuelle Mikro-Menschsein tritt in diesen verantwortlichen Makro-Zusammenhang.

Die von dir vorgetragenen Verse des Gedichts werden vom Wasser förmlich verschluckt und kommen nur undeutlich und verzerrt beim Zuschauer an. Du sprichst also mit uns, aber wir können dich trotzdem nicht verstehen. Taube Gesellschaft oder unverständliches Individuum?

Einfach mal hinhören – wahrscheinlich versteht man mehr als erwartet. Die Performance appelliert an eine instinktive Verständigung, die jenseits von Worten stattfindet – dazu eine Geschichte aus dem Jahr 2001, in dem zum ersten Mal ein Video von mir auf einem Filmfestival, dem Bundesjugendfestival in Rockstock, lief. Ich hatte das Video aus Versehen ohne Ton eingereicht. Man sah nur den Titel, eine 90-sekündige Rede von mir in die Kamera und dann den Abspann –verblüfft saß ich im Publikum. Aber die Rede war direkt ans Publikum und die Jury gerichtet. Und obwohl sie davon niemals ein Wort gehört haben, haben sie die Message anscheinend verstanden. Bei OPHELIA geht es mir um eine Schärfung und Bestätigung dieser instinktiven Welt.

In deinem Werk arbeitest du nicht nur stark interdisziplinär, sondern vor allem auch mit der Spannung von Gegensätzen. Du verbindest Shakespeare mit Lyrik aus dem 20. Jahrhundert, stellst loopartige Reproduzierbarkeit der Einmaligkeit des Moments gegenüber, lässt uns zwar sehen, aber nicht verstehen. Welche Rolle spielen Gegensätze für dich? Zeichen von Diversität oder Unauflösbarkeit?

Ich verstehe die Welt über Gegensätze und deren parallele Existenz immer noch am besten. Frieden bedeutet für mich, Gegensätze zu akzeptieren, aus ihnen zu lernen, mit ihnen zu leben. Ob Diversität das richtige Wort dafür ist, da bin ich mir nicht sicher. Gegensätze müssen eigentlich gar nicht divers sein. Es sind oft einfach Betrachtungsweisen, Blickwinkel und Ziele, auf ein und die gleiche Sache. Durch mein interkulturelles Leben und meine Herkunft von einer eher kapitalistisch geprägten westdeutschen Mutter und einem slowakischen Vater mit eher kommunistischem Gedankengut, längeren Aufenthalten und Wohnsitzen in Amerika und Bolivien, habe ich so viele Perspektiven und Zugänge zum gesellschaftlichen Leben entdeckt. Faszinierend war deswegen für mich immer das scheinbar Fremde miteinander zu vereinen. Ich suche nach Zusammenhängen und Aussagen, die sich verbinden lassen und uns weiterführen.

Die Liste der Krisen unserer Zeit scheint endlos und erzeugt das Gefühl einer Ohnmacht, die uns nahezu bewegungslos macht. Und auch in OPHELIA klingt neben den melancholischen Tönen, vor allem auch die Ausweglosigkeit nach: Gesprochenes Wort wird nur mit Mühe gehört, die Welt und auch Ophelia ertrinken, wir agieren als tatenlose Zuschauer der bevorstehenden Katastrophe. Aber als letzte Frage möchte ich ungern so pessimistisch schließen. Steckt in dem Projekt neben dem Untergang auch noch die Chance auf Rettung? Ein Funken Hoffnung?

Die großen Themen, die sind mir wichtig, aber eigentlich verändert und entwickelt man sich immer innerlich und individuell. Die Demonstration dessen, diese Reflexion und Entwicklung – gerade deshalb exerziere ich die Performances am eigenen Körper und setzte diesen in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. OPHELIA ist also kein Protest gegen etwas, sondern ein Protest für etwas. Während Ophelia stirbt, lebt OPHELIA unter Wasser weiter. Vielleicht blüht sie auch gerade dort erst auf. Es gibt zweierlei Ertrinken – ein psychisches und ein physisches. Vor beidem möchte OPHELIA bewahren und aktiv zu diesem Moment des Selbstbewahrens auffordern. Wenn man der Performance und Ausstellung beiwohnt, dann wird man schnell merken, dass sie wie ich selbst ganz und gar nicht pessimistisch ist. Sondern positiv und humorvoll auf eine Art und Weise, die sich dezidiert mit der Welt auseinandersetzt und eine Suchbewegung initiiert.

www.nadjaverenamarcin.de