Von Spunk Seipel
Skandal! Skandal! Skandal! Kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendwo in einer Galerie, einem Museum oder einer Kunsthochschule ein Skandal ausgerufen wird. Der Skandal in der Kunst, lange als historisches Phänomen abgehakt, prägt die aktuelle Kunstwelt wie kaum eine Epoche zuvor. Der Skandal, eigentlich eine Ausnahmeerscheinung, wird zum Alltag in einer aufgeregten Zeit.
Dabei erinnert vieles an längst vergangene Zeiten. Selbsternannte Moralwächter verurteilen Künstler und Kuratoren nicht nur wegen ihrer Arbeit, sondern auch wegen ihres Privatlebens. Es gibt einen Wettstreit, wer als erster einen Verstoß gegen die neuen guten Sitten in der Kunst entdeckt. Wer die radikalste These am lautesten vertritt, scheint offensichtlich die größte Beachtung zu genießen und erweckt den Eindruck, unangreifbar zu sein. Nur der Verdacht, ein Kunstwerk könnte sexistisch oder rassistisch sein, reicht aus, um Karrieren zu zerstören. Widerspruch wird mit dem simplen Argument weggewischt, dass man auf der richtigen Seite stehe. Kritiker sind verdächtig selber Sexisten, Rassisten oder reaktionär zu sein. Das alles geschieht natürlich nur in der besten Absicht. Im Namen einer Political Correctness, die die Welt zum besseren verändern will.
Prinzipiell kann man gegen Political Correctness nichts sagen. Wer ist schon für Rassismus, Sexismus oder den Auschluss behinderter Menschen aus dem Kunstbetrieb? Political Correctness will Minderheiten schützen und stärken, Ungleichheiten sichtbar machen und diese beseitigen. Diffamierender Sprachgebrauch soll erkannt und einer betroffenen Gruppe durch neue Wörter ihre Würde zurückgegeben werden. An sich ein gutes Ansinnen.
Tatsächlich sind im Zuge der Political Correctness viele schlechte Gewohnheiten aufgedeckt und so manch Gutes angestoßen worden. Museen und Kunstakademien öffnen sich der Inklusion. Es gibt so viele Museumsdirektorinnen und Kunstprofessorinnen wie noch nie in Deutschland. Beim Thema Raubkunst wird inzwischen auch an die koloniale Vergangenheit Deutschlands gedacht und zuweilen sogar gehandelt. Künstler und Kuratoren mit Migrationshintergrund haben bessere Chancen im Kunstbetrieb und werden nicht mehr nur auf ihren erdachten Exotenstatus reduziert. Selbst die Kritiker profitieren von diesen Fortschritten.
Zugleich zeigen die Beispiele aber auch, dass der Kunstbetrieb nicht besser als die Gesellschaft ist. All das sind auch Probleme in der Politik, der Wirtschaft, in der Bildung und jeden anderen Bereich der Gesellschaft. Aber es wird eine überhöhte moralische Erwartungshaltung deutlich, die viele politisch korrekten Menschen an die Kunst haben. Kunst habe über der „normalen Welt“ zu stehen. Kunst solle Vorbildcharakter haben und erzieherisch im positiven Sinne sein. Kunst muss einfach besser sein als die gegenwärtige Welt.
Doch widerspricht nicht genau diese Erwartung der Kunst, wie wir sie schätzen und lieben? Kunst soll uns eine „andere Welt“, nicht unbedingt eine bessere Welt, zeigen. Politisch korrekte Zeitgenossen sind offensichtlich nicht dieser Meinung. Sie rufen schnell einen Skandal aus, wenn sie ein vermeintlich diskriminierendes Kunstwerk entdecken. Aber wird sich nicht immer jemand finden, der sich durch ein Kunstwerk beleidigt fühlt? Was, wenn sich jemand von abstrakten Malereien gestört fühlt, weil dadurch bestimmte gesellschaftliche Probleme nicht thematisiert werden?
Letztes Jahr wurde das Bild von einem schwarzen Opfer des Rassismus in den USA von der weißen Malerin Dana Schutz auf der Whitney Biennale skandalisiert. Der Skandal bestand darin, dass eine Weiße das Leid von Schwarzen ausbeute. Ob die Nichtthematisierung des schwarzen Leids besser wäre, wurde bei diesem Streit nicht gefragt. Vielen ist eine totale Segregation der Rassen und Gruppen im Namen der Political Correctness lieber, als dass jemand die Kultur einer anderen Gruppe „benutzen“ würde. Das kann nur zur totalen Rassentrennung und Entfremdung der Menschen führen.
Ebenfalls in New York fordern Tausende, dass im Metropolitan Museum ein Bild von Balthus abgehängt wird. Schon 2014 sagte das Folkwang Museum in Essen eine Balthus-Ausstellung ab. Die Bilder des Malers werden letztendlich nur noch unter einem rein sexistischen Gesichtspunkt gesehen. Eine Einbahnstraße bei der Interpretation der surrealen Bildwelten des polnischen Malers.
Auch dass in Manchester ein vermeintlich sexistisches Bild von John William Waterhouse aus dem Jahr 1896 abgehängt wurde sorgt nicht für Ruhe in der Sexismusdebatte. Es zeigt zudem, wie besessen vom Sexismus jene sind, die sich für die Zensur solcher Bilder aussprechen. Sie können Bilder nur noch unter einer sexistischen Sichtweise sehen. Die Frau ist in ihren Augen prinzipiell zum Objekt gemacht worden. Andere Interpretationen können nicht mehr gelten. Tatsächlich lebte der abgebildete Hylas in einer homoerotischen Beziehung mit Herakles. Die Nymphen drängten ihn in den Wassertod. Die Frauen spielen in dieser Sage eine bedrohliche, mächtige Rolle. Doch die Zensur sieht die nackten Brüste ausschließlich als sexistisches Frauenbild welches nicht mehr zeitgemäß ist. Wird eine Folge dieser Diskussion sein, dass der nackte weibliche Körper nicht mehr darstellbar sein wird? Zumindest nicht von Männern?
Hier spiegelt sich auch die Hierarchisierung der „Opfer“ in der Debatte. Schwarze und Frauen werden nur noch als Opfer wahrgenommen. Weiße Männer prinzipiell als Täter. Wer sich dieser Hierarchisierung nicht unterordnet, gilt als reaktionär. Viele fürchten im Zuge dieser Debatten zurecht um die Freiheit der Kunst. Oft wird zudem eine Unkenntnis der Kunstgeschichte deutlich. Historische Zusammenhänge ignoriert. Kann man heutige Maßstäbe auf die Kunst von Gestern übertragen? Kann man noch Caravaggio (Mörder, Gewalttäter, Pädophiler), Bernini (Gewalttäter), da Vinci und Michelangelo (beiden wird Pädophilie unterstellt) heute noch ausstellen? Was ist mit Kunst, die sich auf deren Arbeiten bezieht?
All die radikalen Maßnahmen der letzten Monate werden die Kunst, wie wir sie heute kennen, verändern. Political Correctness, so der Vorwurf, wird der Kunst das nehmen, was sie interessant und spannend macht. Was ihre eigentliche Aufgabe in der westlichen Kunst ist und über Jahrhunderte schwer erkämpft wurde: Frei zu sein von Konventionen. Kunst ist da, um zu irritieren und zu provozieren. Kann sie das, wenn in den Köpfen der Kuratoren und Künstler eine politisch korrekte Schere existiert?
Tatsächlich passt das eine nicht mit dem anderen zusammen. Kunst, die die Grenzen der Freiheit auslotet, kann per se nicht politisch korrekt sein. Das bedeutet nicht, dass Sexisten und Rassisten einen Freifahrtschein bekommen sollen, sobald sie sich Künstler nennen. Aber wenn Kunst nur noch nach moralischen Gesichtspunkten bewertet wird, verliert sie ihre Intellektualität, Innovationskraft und jede Spannung.
Zudem werden viele auf eigene Widersprüche stoßen und bemerken, dass ihre Forderungen nicht unbedingt besser sind als andere. Warum nur eine Frauenquote bei Ausstellungen? Die Quoten haben bewirkt, dass bedeutend mehr Frauen in leitender Position im Kunstbetrieb sind als früher. Aber es gibt zahlreiche Minderheiten, die bislang im Kunstbetrieb massiv marginalisiert werden und bislang keine Quote haben. Abschaffung einer sexistischen Sprache? Gerne. Aber diskriminiert man damit nicht diejenigen, die auf leichte Sprache angewiesen sind. Einer Sprache, die bewusst auf das gendern der Texte verzichtet, um leicht verständlich zu werden. Wer möchte sagen, welche Maßnahme wichtiger ist? Und werden Texte nicht irgendwann unlesbar, wenn man überall Sternchen, Unterstriche etc. einführt?
Bei Übersetzungen von Museumstexten wird ganz schnell deutlich, dass viele politisch korrekt gedachte Maßnahmen doch nur an das eigene Publikum gerichtet sind. Englisch ist Standard als Zweitsprache in Ausstellungen. Warum wird nie ins türkische, arabische oder polnische übersetzt? Die Bevölkerung vor der eigenen Haustür wird bei weitem nicht so ernst genommen wie der internationale Kunstbetrieb, der für die Karriere viel wichtiger ist. Ist das politisch korrekt?
Diese wenigen Beispiele entlarven ein Dilemma innerhalb der Debatte. Viele Ideen werden direkt von Universitäten in den USA übernommen. Die Sprache ist akademisch und schließt all jene aus, die sich nicht für dieses Thema interessieren oder nicht die nötige Bildung haben. Political Correctness wollte Sprache als Machtmittel enttarnen und dadurch Diskriminierungen beseitigen. Nun wird aber gerade von führenden Köpfen der Bewegung Sprache als Machtmittel benutzt. Wer nicht up to date bei Fachbegriffen ist, wird als rückständig gebrandmarkt. Feindbilder wie der „weiße, alte Mann“ ersetzen alte Feindbilder. Und die marginalisierten Minderheiten? Für die wird gesprochen und eingefordert, ohne sie zu Wort kommen zu lassen, wenn sie nicht die Sprache des Diskurses beherrschen. Vertreter der Minderheiten werden nur zum Diskurs zugelassen, wenn sie über genau den richtigen Wortschatz verfügen. Zudem kann man den Wortführern der Political Correctness eine arrogante Ungeduld unterstellen. Wer Zeit braucht für sein eigenes Meinungsbild, wird auch als reaktionär verachtet.
Bereichert Political Correctness nicht auch den Kunstbetrieb? Doch, zuweilen schon. Wie oben angeführt, ist die Kunstszene bunter, vielfältiger geworden. Das ist die gute Seite, die man nie in der aktuellen Diskussion vergessen sollte. Doch muss man einfach auch feststellen, dass inzwischen diese Entwicklung oft das Maß überzogen hat, wenn fast wöchentlich ein neuer Skandal ausgerufen wird. Wenn nicht mehr diskutiert, sondern im Namen der Political Correctness verurteilt wird. Wenn Zensur im Sinne einer Moral zum Standard in den Köpfen von Kuratoren und Künstlern wird. Zu viele der Zensurmaßnahmen erinnern an die Skandale im 19. Jahrhundert. Gab es Skandale vor einigen Jahren in der Kunst fast ausschließlich, wenn die Freiheit der Kunst eingegrenzt wurde, sind es heute die Skandale, die entstehen, wenn etwas nicht der gemeinhin postulierten Moral entspricht. Die Freiheit der Kunst, des Denkens wird so allzu oft eingeschränkt. Das ist ein Skandal.
Titelbild: Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571-1610), Johannes der Täufer, ca. 1610,
Öl auf Leinwand, 159 x 124 cm, Galleria Borghese, Rom